SOZIALE ORGONOMIE
Paul Mathews (1924-1986)

 

Der genitale Charakter und die genitale Welt(*)

Pauls Mathews, M.A.

The Journal of Orgonomy vol. 11/2, 1977(**)
The American College of Orgonomy
übersetzt von Robert Hase

 

Die soziale Existenz des Lebewesen Mensch ist, bioenergetisch betrachtet, an sich nur ein kleiner Gipfel auf dem gigantischen Berg seines biologischen Daseins.
Wilhelm Reich (Vorbemerkung, Ausgewählte Schriften)

 

Manchmal scheint es, daß sich die Kurse über Orgonomie hauptsächlich mit der kranken, neurotischen Struktur der Menschen und ihrer Welt beschäftigen, was nicht so verwunderlich ist, wenn wir diese Welt betrachten. Tatsächlich ist es so, daß wir derartig in die Probleme der neurotischen, biopathischen Menschheit eingebunden sind, daß wir nicht viel Zeit haben uns dem Thema der Genitalität und der genitalen Welt zu widmen. Wie viele von uns haben tatsächlich ideale genitale Charaktere kennengelernt oder die Modalitäten einer wirklich genitalen Welt erlebt? Vielleicht in unseren Träumen – Träume vom Paradies, von Schönheit und Liebe – vielleicht in der magischen Welt von Literatur, Kunst und Musik. Reich führte aus, daß der Mensch das Wesen seiner Genitalität am meisten in den Künsten bewahrt hat (1); und für diejenigen, die liebesfähig sind, findet sie sich natürlich in den Armen ihrer Geliebten.

Seit Urzeiten haben die Menschen von idealen Welten geträumt und sie beschrieben: Platos Republik, Plutarchs Sparta, das „verlorene Atlantis“ der griechischen, nordischen, keltischen und arabischen Legenden, Sir Thomas Morus‘ Utopia, die idealen Welten von Hobbes und Rousseau, Bacons New Atlantis, Butlers Erewhon, Hiltons „Shangrila“ (2-9) und selbstverständlich die himmlische Erfüllung der jüdischen, christlichen, islamischen und anderer Theologien sowohl zivilisierter als auch primitiver Kulturen. Einiges des zeitgenössischen Science Fiction ist ebenfalls Ausdruck eines idealen Universums jenseits unserer begrenzten irdischen Existenz. Alle diese Visionen haben die Phantasie und die Sehnsüchte der Menschen seit Jahrtausenden angeregt.

Warum hat die Menschheit diese Sehnsüchte und Visionen so beständig zum Ausdruck gebracht? Ist es die Erinnerung an das einst erlebte während der sonnigen Unschuld in Kindheit und Jugend? Ist es eine Form von kosmischem Kontakt, der sich nach der idealen Schönheit des Universums sehnt? Wir können nur spekulieren.

Leider waren die meisten Utopisten an mystisch-mechanistische Konzepte von Glück und Erfüllung gebunden, die kompensatorisch und zugleich schädlich waren. Wie alle neurotischen Mechanismen neigten sie dazu, die Sinne abzustumpfen oder Euphorie und Illusionen zu verstärken. Dies wiederum verzerrte die Wahrnehmung und das Denken, was in irrationalen gesellschaftlichen Konzepten zum Ausdruck kam. Für Plato war der Intellekt die Utopie – das Reich des „Philosophenkönigs“; für Morus war es die gemeinschaftlich organisierte Gesellschaft, mit Verbrechern und Ehebrechern als Sklaven und patriarchalischen Ältesten als die führenden Geister; Shangrila ist eine verträumte, passive Welt pazifistischer und asketischer Ideale; in den neueren Welten der Sci-Fi-Utopien befinden wir uns im Reich des emotionslosen, sterilen und/oder sadomasochistischen Daseins, in computerisierten, robotisierten Horror-Welten, wie sie in Literatur und Kino dargestellt wurden, in „Clockwork Orange“, „2001“, „Logan's Run“ und „Star Wars“.

Die Beziehung zwischen Utopien und der politischen Charakterologie wurde vor kurzem von Erik von Kuehnelt-Leddihn klar erläutert. Er stellt fest:

Es kann kaum ein Zweifel darüber bestehen, daß die Utopien sehr oft als säkularer Ersatz für das religiöse Konzept eines jenseitigen Himmelreichs oder sogar für das hier auf Erden verlorengegangene Paradies dienen (...) Die Anstrengungen zur Errichtung von Utopien haben ohne Zweifel ungeahnte Schäden verursacht; Ozeane von Blut waren die Folgen. (...) unnötig zu sagen, daß eine Ideologie der treibende Motor bei der Umwandlung der meisten utopischen Visionen in die Realität ist. (10)
Hier hat Kuehnelt-Leddihn die utopischen politischen Ideologien des Nazismus und des Kommunismus im Sinn.

Für den funktionellen Denker wird deutlich, daß den Stammvätern aller dieser Systeme das entgangen ist, was Freud und Reich als genitalen Primat bezeichnet haben. Keine dieser utopischen Bewegungen hat den biologischen Kern des Problems verstanden, eine bessere Welt zu erschaffen. Alle diese Systeme, die neurotischen Charakterstrukturen entsprungen sind, waren sexualverneinend. Reich zeigt in der Charakteranalyse die von sexueller Schuld und Sexualablehnung geprägte Struktur des Neurotikers (11, S. 225-236). Das Konzept einer gesünderen, besseren Welt als einer Weiterentwicklung von orgastisch potenten Menschen war und ist den Utopisten fremd. Selbst heute, mit einem gewissen intellektuellen Verständnis der funktionellen Konzepte Reichs, ist die Menschheit wohl kaum strukturell bereit, diese Prinzipien zu leben.

Trotzdem ist es interessant, über die Natur einer genitalen Welt zu spekulieren. Wir wissen, daß es in bestimmten primitiven Gesellschaften Anzeichen für ein solches genitales Leben gab. Das der Trobriander, wie es in Malinowskis Forschung (12) und in Reichs interpretierender Studie der Ergebnisse von Malinowski gezeigt wurde (13), möglicherweise die australischen Aborigines nach Roheims Studien (14) und die Buschmänner der Kalahari. Das sind sanfte, liebevolle und freundliche Menschen – Jäger und Sammler. Die Trobriander waren eine matrilineare Gesellschaft, in der die genitale Sexualität vom frühesten Alter an bejaht wurde. Sie zeigen uns, wie sich eine mehr zivilisierte genitale Welt möglicherweise darstellen könnte.

Aufgrund von Reichs Arbeit und die seiner orgonomischen Kollegen können wir zumindest einige fundierte Spekulationen über eine genitale Welt machen. Zu diesem Zweck verlohnt ein Blick auf das, was wir über die Natur der Genitalität gelernt haben.

Von Freud (15) und Reich (11) haben wir erfahren, daß der Mensch mehrere Stufen in seiner sexuellen Entwicklung durchläuft – oral, anal, phallisch und genital (bei einem Alter von 4). Reich betrachtete die anale Stufe als Artefakt der Reinlichkeitserziehung in unserer Gesellschaft. Wir wissen, daß eine Fixierung auf einer dieser Stufen, entweder durch Unterdrückung oder Unbefriedigung, zu einer Neurose führt, die für diese Fixierung charakteristisch ist, d.h. oral-abhängig oder depressiv; anal-zwanghaft oder masochistisch; phallisch-narzißtisch, genital-hysterisch usw. Baker hat postuliert, daß die Augen eine erogene Zone sind, die bei Fixierung einen okularen Charakter (Schizophrenie) erzeugen kann.

Der genitale Charakter kann nicht auf frühere Entwicklungsstufen regredieren, um seine Konflikte und Spannungen zu bewältigen und muß ihnen auf seiner eigenen Stufe begegnen. Entweder durch rationale Konfrontation (wie im gesunden genitalen Typus), durch Aggression (phallisch) oder durch Flucht und Kontaktlosigkeit (hysterisch) (16). Der gesunde genitale Charakter akzeptiert seine Genitalität. Dies beinhaltet eine bestimmte Reihe von Bedingungen. Wir wissen aus Reichs Arbeit, daß man nur durch orgastische Entladung den geordneten Energiehaushalt aufrechterhalten kann, der Voraussetzung für Gesundheit ist. Der echte genitale Charakter ist zu dieser Ökonomie fähig, weil er mit einem Minimum an Panzerung überlebt hat; der flexiblen Panzerung, die für den Schutz in einer gepanzerten Welt notwendig ist. Er hat keinen Ödipuskonflikt, denn er hat seine genitalen Wünsche auf ein heterosexuelles Liebesobjekt übertragen, das ein reales Liebesobjekt und kein Ersatz für das Inzestobjekt ist. Welche prägenitalen Wünsche er auch immer hat, sie stehen entweder im Dienste seiner genitalen Sexualität – als Vorspiel, das die Bewegung der Energie zum Becken anregt – oder in irgendeiner Art der Sublimation durch Arbeit.

Weil er kein schuldbesetztes ödipales Problem hat, kann er die Sexualität um ihrer selbst willen genießen und ist folglich sexualbejahend, während jeder Neurotiker bis zu einem gewissen Grade sexualverneinend sein muß. Der Konflikt zwischen der ödipalen Schuld des Neurotikers von innen und dem ödipal-fixierten sozialen Druck von außen einerseits und seinen grundlegenden biologischen Bedürfnissen andererseits berauben ihn sowohl seiner Energie als auch seiner Willenskraft. Folglich zieht es der Neurotiker vor, die sexuelle Frage zu vermeiden, betrachtet sie philosophisch oder bekämpft sie auf zerstörerische Weise (Emotionelle Pest-Reaktion), wenn er hoch geladen und im Becken stark blockiert ist. Während der Neurotiker unbedingt versuchen muß, seine Potenz zu beweisen, oder er resigniert, empfindet der genitale Charakter sie als naturgemäß und nimmt sie als so selbstverständlich als Teil seines Daseins hin wie die Atmung.

Reich äußerte über den Neurotiker:

Da immer ein mehr oder minder bewußtes Impotenzgefühl besteht, werden viele soziale Leistungen in erster Linie kompensierende Potenzbeweise, was die Minderwertigkeitsgefühle nicht verringert; im Gegenteil: Da die sozialen Leistung oft Potenzbeweise sind, aber das genitale Potenzgefühl in keiner Weise ersetzen können, wird der neurotische Charakter das Gefühl der inneren Leere und Unfähigkeit nie los, er mag noch so gut kompensieren. (11, S. 229f)
Aus diesem Zitat können wir die Ätiologie des sogenannten getriebenen Charakters erschließen, der Erfolg und Macht sucht, weil diese Dinge einen Ersatz für seine orgastische Potenz darstellen. Darüber hinaus löst allein schon der Vorgang des sozialen Strebens mehr Energie aus, erhöht den Druck, verstärkt Unzulänglichkeitsgefühle und produziert in einem Teufelskreis noch weiteres neurotisch bedingtes Streben.

Die soziale Leistung des genitalen Charakters beruht dagegen auf seinen angenehmen und sogar freudvollen Empfindungen hinsichtlich seiner Arbeit und weil er sich mit dem identifiziert, was für die Menschen und die Gesellschaft am besten und am befriedigendsten ist. Er hat drei Grundformen des Kontaktes: mit seinem Kern bzw. Selbst (Unabhängigkeit), mit seiner Umgebung (Verantwortung) und mit dem Kosmos (Zugehörigkeit) (16). Weil er unblockiert ist, kann er alle seine Gefühle angemessen und eindringlich erfahren und sie entweder mit seiner natürlichen Aggression oder der Fähigkeit zur natürlichen Hingabe ausdrücken, d.h. er ist weder destruktiv aggressiv noch neurotisch unterwürfig. Er hat einen gesunden Körper, der flexibel und kräftig, aber nicht hart ist, eine gute Gewebespannung der Haut und glänzende, kontaktvolle Augen. (Siehe Reich (11), Baker (16) und Raknes (17.).

Während das Verhalten des Neurotikers durch Angstvermeidung und durch Schuld motiviert wird, wird der genitale Charakter durch das motiviert, was ihm Freude und Zufriedenheit schenkt. Er ist weder in irrationalen Haß und Rache festgefahren noch in Resignation als Folge eines ungelösten ödipalen Problems. Entsprechend werden Menschen als das wahrgenommen, was sie wirklich sind und nicht als Symbole von frustrierenden und verdrängten Objekten in der Düsternis der sekundären Schicht. Folglich verhält sich der genitale Charakter rational gegenüber Menschen, reagiert mit Respekt und Freundlichkeit, wenn sie ihm entgegengebracht wird, und mit Zorn und Wut, wenn das angebracht und angemessen ist, wenn notwendig auch mit tödlicher Gewalt. Seine Beziehung zum Partner wird durch Liebe und Lust bestimmt sein, nicht durch Schuld und Zwang. Sein monogames Verhalten wird durch gesunde Kriterien bestimmt und er kann polygam sein, wo es notwendig oder rational ist (18). Der Neurotiker hingegen bleibt in einer klebrigen, zwanghaften Beziehung oder wird promisk und kontaktlos von einem Partner zum anderen schwirren oder sich in sadomasochistischen Formen von polygamem Sex ergehen, z.B. polymorph-perversem Gruppensex. Das Letztere rationalisiert er häufig als therapeutisch oder als Ausdruck freier und alternativer Formen der Sexualität. Dr. Elsworth F. Baker erklärte zum genitalen Charakter: „Perversionen sind ihm gleichgültig, und Pornographie stößt ihn ab“ (16, S. 162).

Die Intelligenz des genitalen Charakters steht in Harmonie mit seinem genitalen Primat (orgastische Potenz) und dient als getreuer Ausdruck seiner Pulsation vom Kern zum Kosmos. Das heißt, während der Neurotiker an gestörter Pulsation leidet, entweder in der Richtung Kontraktion gegen Expansion oder Expansion gegen Kontraktion, abhängig von der Charakterologie und den Umständen, pulsiert der genitale Charakter einfach (siehe Abb. 1 und Abb. 2).

Anders als der Neurotiker benutzt der genitale Charakter seine Intelligenz nicht als Abwehr gegen die Bedrohung durch wahres Wissen oder als zerstörerische Waffe auf dem sozialen Schauplatz. Der Emotionelle Pest-Charakter ist das klassische Beispiel des letzteren (20). Seine Rationalisierungen stellen eine Verkleidung dar, die Ausdruck von etwas tieferem ist, das um jeden Preis verteidigt werden muß.

Der genitale Charakter toleriert nicht nur Emotionen, sondern genießt und fördert den natürlichen Ausdruck der Lebendigkeit in jeglicher Form. Ich betone „natürlich“, weil seine orgonotischen Sinne ihm sofort sagen, wann etwas falsche Lebendigkeit, Ersatzkontakt (11, 16) oder heimtückischer Mißbrauch von natürlichen biologischen Strebungen ist. Er kennt den Unterschied zwischen Perversion, Pornographie und natürlicher Sexualität, zwischen Volkssängern und Volksagitatoren, Freiheitsliebenden und Freiheitskrämern, Wahrheitsliebenden und Wahrheitskrämern; er kennt den Unterschied zwischen gut, mittelmäßig, schlecht und noch schlechter – zwischen den Unzulänglichkeiten der Ideale und der Regierung Amerikas und dem Schrecken einer rotfaschistischen oder schwarzfaschistischen Gesellschaft (20). Der neurotische Freiheitskrämer hat kein Gefühl für diese Dinge und der rotfaschistische Modju weiß, daß eine solche Gesellschaft zerstört werden muß, wenn er überleben will.

In Anbetracht einiger dieser technischen und sozialen Voraussetzungen für den gesunden genitalen Charakter und seine Differenzierung von nicht gesunden genitalen Typen und prägenitalen Typen, was können wir über eine genitale Welt mutmaßen? Zuerst wollen wir den nicht existierenden idealen genitalen Charakter von dem realen unterscheiden. Reich erklärte: „Die realen Charaktere stellen Mischformen dar, und es kommt bloß auf die Entfernung von dem einen oder anderen Idealtyp an, ob die Libidoökonomie gewährleistet ist oder nicht“ (11, S. 226). Das heißt, es gibt eine Unterscheidung zwischen einem idealen genitalen Typus und einem, der im Wesentlichen wie ein genitaler Charakter funktioniert. Dr. Elsworth Baker glaubt, daß Reich so ein funktioneller genitaler Charakter war (21). Zum Beispiel kann ein funktioneller genitaler Charakter arbeiten, konkurrieren und kämpfen für etwas, das er sehr stark will, ob für einen Partner oder für einen bestimmten materiellen Besitz oder für Status und Stellung. Sein Wunsch nach diesen Zielen ist nicht durch neurotische Bedürfnisse (Ersatzpotenz) motiviert, sondern durch echte Freude am Erfolg. Seine gesamte Leistungsweise wird jedoch eine qualitativ anständige, ehrliche und realistische Prägung haben. Als „Mischtyp“ kann er sogar gelegentlich einer neurotischen oder emotional pestkranken Manifestation nachgeben, wird aber in den meisten Fällen in der Lage sein, es zu erkennen, zu handhaben und sich davon zu erholen.

Also wie wäre eine Gesellschaft, die auf einer solchen Charakterstruktur beruht? Gäbe es Konkurrenz um Besitztümer und Stellung? Wahrscheinlich. Gäbe es Konflikte und Meinungsverschiedenheiten? Natürlich. Sogar Kriege? Ja.(1) Maschinen und Industrie? Warum nicht? Kriminelle und Strafen? Ja. Sexuelle Perversion? Ein paar (die Trobriander hatten einige). Schulen? Höchstwahrscheinlich. Psychiatrische Kliniken? In einem gewissen Sinne. Was würde dann eigentlich eine genitale Welt von der gegenwärtigen neurotischen unterscheiden? Meiner Meinung nach im Wesentlichen dies: in einer genitalen Welt wären Handlung und Beweggrund weitgehend deckungsgleich; die Schulen würden hauptsächlich den grundlegenden biologischen (und damit intellektuellen) Bedürfnissen von Kindern dienen; die psychiatrischen Kliniken würden versuchen, orgonotischen Kontakt in einer funktionellen Weise wiederherzustellen; die Konflikte und Meinungsverschiedenheiten würden auf derzeitigen Realitäten beruhen und nicht auf infantilen Fixierungen; die Verbrecher wären jene, die Anstand und biologische Gesundheit verletzen, sowie diejenigen, die direkt sekundäre Triebe in einer offenkundig zerstörerischen und schädlichen Weise ausdrücken; die Industrialisierung würde rational den Bedürfnissen der Menschen für eine glücklichere und gesündere Existenz dienen; die Konkurrenz würde auf der Freude und der Befriedigung, etwas in einem Bereich zu leisten, beruhen, anstatt auf Macht, Ausbeutung und Unterdrückung.

Was Kriege betrifft: auch wenn eine genitalartigere Welt Konflikte minimieren und sie rationaler bewältigen würde, könnten, angesichts einer weiten Welt mit unterschiedlichen Gruppen und Organisationen sowie großer Populationen, dennoch Anlässe für tatsächlich bewaffnete Konflikte auftreten. Vielleicht würden solche Konflikte in einer genitalartigen Welt zumindest mit einer größeren Rücksicht auf die Möglichkeit einer globalen Vernichtung des Lebens ausgekämpft werden und mit der Fähigkeit diese Gefahr abzuwenden.

Elsworth F. Baker betont, daß eine ideale Welt nur konzeptionell existieren kann, daß, wenn überhaupt, dann nur eine funktionelle genitale Welt möglich ist.(2) Er glaubt, daß eine solche Welt nur unter bestimmten Bedingungen friedlich bleiben könnte: Erstens, wäre sie relativ statisch, d.h. nicht dem Fortschritt und Wachstum, wie wir sie kennen, unterworfen, so wie es in manchen tropischen Gebieten der Fall ist, wo Nahrung reichlich vorhanden ist, und in der Arktis mit ihren prekären Lebensumständen, wie zum Beispiel für die Eskimos. Zweitens wäre es wegen der Bedingungen in der Umwelt und speziell in der Gesellschaft notwendig, daß der Privatbesitz an Land und anderem bedeutsamen Eigentum kein entscheidender Faktor für das Überleben oder die emotionale Gesundheit wäre. Letzteres bedeutet nicht, daß der Wunsch nach eigenem Land und Eigentum nicht-genital ist. Ganz im Gegenteil gibt es Hinweise darauf, daß es für solche Wünsche urzeitliche tierische und menschliche Wurzeln gibt (22). Dr. Baker ist auch der Ansicht, daß in solchen Gesellschaften Konflikte von kriegerischer Natur begrenzt und lokal blieben, statt einen globalen Maßstab anzunehmen. Ferner glaubt er, daß die Arbeitsdemokratie nur begrenzt funktionieren kann; daß trotz einer angemessenen Vergütung, die auf der Befähigung und der tatsächlich geleisteten Arbeit beruht, sowohl Konkurrenz als auch Eifersucht am Werk seien, da sie Teil der Überlebensausrüstung des Menschen und anderer Tiere sind; und daß unweigerlich der Kampf um den Besitz der fruchtbarsten Ländereien und anderer Vorteile zu Konflikten beitrügen.

Natürlich basieren die Hypothesen von Dr. Baker auf der Annahme, daß diese funktionelle genitale Gesellschaft der Zukunft in einer Welt wie der unseren, was die Bevölkerungszahl betrifft, d.h. einer Welt mit Milliarden von Bewohnern, existieren würde. Ihm zufolge kann man nicht erwarten, daß so große Menschenmassen, die sich in dichtbevölkerten Enklaven zusammendrängen, rational bleiben;(3) daß nur in einer Welt kleiner und relativ isolierter Gruppierungen die Möglichkeit für ein durchgängig genitales Verhalten erwartet werden kann. Der Zusammenstoß von zu vielen Energiefeldern aufeinander, die Erzeugung großer DOR-Mengen und ein Rest neurotischer Tendenzen würden Konflikte auslösen, wie sie die heutige Welt zeigt. Unsere Welt ist wirklich viel zu klein für die enorme Bevölkerung, die sie zu ernähren versucht. Auf jeden Fall geht Dr. Baker davon aus, daß es nicht möglich wäre, eine Welt völlig ohne Kriege, Konflikte und Irrationalität zu haben.

Sollte diese Schlußfolgerung uns entmutigen? Nicht, wenn wir daran interessiert sind in Richtung einer erheblich besseren Welt, als wir sie haben, zu arbeiten, anstatt einem mystischen, utopischen Paradies; und nicht, wenn wir verstehen, wie die passende Richtung hin zu einer besseren Welt, wie Bevölkerungskontrolle, gesündere Kindererziehungspraktiken und selbstregulierende Lebensstile, einzuschlagen ist. Mystische Bestrebungen neigen dazu, den Willen zu lähmen, sobald die Enttäuschung einsetzt, wohingegen die Wirklichkeit uns Perspektive, Geduld und Kraft verleiht.

Es sei auch ausdrücklich hervorgehoben, daß diese Beobachtungen in keiner Weise das orgonomische Kriterium der Gesundheit, das genitale Primat, außer Kraft setzen. Ungeachtet der vielen selbsternannten Neo-Reichianer, die dazu neigen, Reichs grundlegende Konzepte zu verzerren und damit die Öffentlichkeit zu täuschen, bleibt die Genitalität der entscheidende Faktor für die Lehren Reichs. Das Primat der Genitalität zu leugnen, ist gleichbedeutend mit der Leugnung der Existenz aller lebenden Funktionen, von denen die Orgasmusformel das Grundmodell ist. Reich behauptete: „Ich habe in Wirklichkeit nur EINE EINZIGE Entdeckung gemacht: DIE FUNKTION DER ORGASTISCHEN PLASMAZUCKUNG. Sie stellt den Küstenstrich dar, von dem aus sich alles weitere ergab“ (23).

Reich hatte Vorstellungen von einer Gesellschaft, die nach seinem Konzept der Arbeitsdemokratie strukturiert ist und von funktionellen genitalen Charakteren bevölkert wird, den erwachsenen „Kindern der Zukunft“ (1). Er stellte sich auch eine Welt ohne Führer, wie wir sie jetzt kennen, vor, d.h. eine Welt, die von einem „neuen Führer“ geleitet wird, der nicht in einer autoritären Weise führt, sondern Menschen anleitet und ihnen hilft, sich selbst zu lenken; der sie mit größerer Verantwortung für sich selbst belasten würde, nicht mit weniger (20, S. 359-391); eine Welt, in der Entscheidungen und Planungen von denen erledigt werden, die am besten durch die geleistete „lebensnotwendige Arbeit“ aller Art qualifiziert sind und nicht durch neurotische, machtbesessene Politiker. Diese Welt Reichs wäre eine, in der Liebe und natürliche Sexualität nicht nur geduldet, sondern als notwendige Voraussetzungen vollständig akzeptiert würden.

Dies war Reichs großartige Vision einer an Genitalität orientierten Utopie, ein Konzept, das gewiß fundierter, realistischer und wissenschaftlicher ist als jede andere utopische Gesellschaft, die der Mensch anzubieten hat. Reich erkannte jedoch die spekulative Natur seines Traums. Trotzdem ist er etwas, nach dem man streben kann, solange wir das ohne Illusionen tun. Zumindest haben wir zum ersten Mal ein solides, gesetzmäßiges energetisches Fundament, das in Mensch und Kosmos identisch ist, um uns durch das labyrinthische Gewebe unserer gepanzerten Vergangenheit und Gegenwart zu führen.

 




Literatur

  1. Reich, W.: Die Massenpsychologie des Faschismus, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1971
  2. Plato: Der Staat, Stuttgart: Reclam, 1982
  3. Plutarch: „Lykurg“, In: Große Griechen und Römer, 6 Bände (Bibliothek der Alten Welt), Berlin: De Gruyter, 2011
  4. Morus, T.: Utopia, Stuttgart: Reclam, 2016
  5. Bacon, F.: Neu–Atlantis, Stuttgart: Reclam, 2003
  6. Hobbes, T.: Leviathan, Stuttgart: Reclam, 1986
  7. Rousseau, J.J.: Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechtes, Frankfurt a. M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag, 2005
  8. Butler, S.: Erewhon, München: Goldmann, 1985
  9. Hilton, J.: Der verlorene Horizont, München, Zürich: Piper, 2003
  10. Kuehnelt-Leddihn, E. von.: „Utopias and Ideologies“. Modern Age 21:263, 1977
  11. Reich, W.: Charakteranalyse. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1970
  12. Malinowski, B.: Das Geschlechtsleben der Wilden in Nordwest-Melanesien, Frankfurt a. M.: Syndikat, 1979
  13. Reich, W.: Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral, Köln: Kiepenheuer und Witsch, 1972
  14. Roheim, G.: Psychoanalyse und Anthropologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1977
  15. Freud, S.: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Frankfurt a. Main: Fischer, 1991
  16. Baker, E.F.: Der Mensch in der Falle, München: Kösel, 1980
  17. Raknes, O.: Wilhelm Reich und die Orgonomie, Frankfurt a. M.: Fischer, 1973
  18. Reich, W.: Die sexuelle Revolution, Frankfurt a. M.: Europäische Verl.-Anst., 1966
  19. Mathews, P.: „The Sociopolitical Diathesis“. Journal of Orgonomy 8:204-15, 1974; und „The Mechanisms of the Emotional Plague“. Journal of Orgonomy 9:206-218, 1975
  20. Reich, W.: Christusmord. Olten, Freiburg im Breisgau: Walter, 1978
  21. Baker, E.F.: persönliche Mitteilung
  22. Ardrey, R.: Adam und sein Revier, Wien: Molden, 1968
  23. Reich, W.: Äther, Gott und Teufel. Frankfurt: Nexus, 1983

 


Fußnoten

(*) Basiert auf einem Vortrag vor dem Kurs für Soziale Orgonomie an der New York University, Frühling 1977.

(**) ANMERKUNG DES ÜBERSETZERS: Dieser Artikel wurde 2006 im Journal of Orgonomy (vol. 40/1) erneut veröffentlicht. Im Vorwort zur Neuausgabe schrieb Dr. Robert A. Harman:

Es ist erstaunlich, wie gut dieser Artikel, der ursprünglich vor fast 30 Jahren im [Journal of Orgonomy] 11 (2), 1977, veröffentlicht wurde, den Test der Zeit bestanden hat. Die utopischen Entstellungen, die Mathews 1977 entlarvte, erscheinen noch immer regelmäßig in Publikationen derjenigen, die behaupten, die Orgonomie zu vertreten und deren unbegründete Phantasien über die Trobriand-Inselbewohner nehmen einen führenden Platz in diesen Entstellungen ein. Die wiederkehrenden Bilder eines nicht konkurrierenden, gewaltfreien, halbanarchischen Ideals der Gesundheit stellen einen Versuch dar, die spontane Bewegung des Lebens vom menschlichen Denken auszuschließen und sie durch ein kastriertes, immobilisiertes Phantasieleben zu ersetzen, das weniger bedrohlich für den übermäßig Intellektualisierten ist. Eine eingehende Überprüfung aller Schriften Malinowskis über die Trobrianer zeigt ein Volk, das ausgesprochen wettbewerbsorientiert ist, was das Erlangen und das Präsentieren von Reichtum betrifft, ohne Zögern Krieg und andere Formen von Gewalt anwendet, um seine ureigensten Interessen zu verteidige, aggressiv voller Lebensfreude ist und fähig ist, soziale Konflikte mit spontaner Flexibilität und Respekt vor den Tücken der menschlichen Natur zu bewältigen, die mit den modernen Maßstäben der politischen Korrektheit nichts gemein hat.

Mathews' bahnbrechender Artikel verdient eine erneute Lektüre durch unsere langjährigen Abonnenten und ist ein erfreuliches „Fundstück“ für neue Generationen von Studenten der Orgonomie.

(1) Einige meiner Kollegen haben Einwände gegen dieses Konzept, so daß ich ergänze, daß idealerweise keine Notwendigkeit für Kriege zwischen genitalen Charakteren bestünden. Aber es liegt in der Natur der Dinge, ob von innen oder von außen bedingt (im letzteren Fall durch DOR usw.), das Segmente einer Gesellschaft akute Emotionelle Pest-Reaktionen entwickeln könnten, die eine entschiedene Unterdrückung erforderten. Siehe auch Dr. Bakers Ideen, die in diesem Artikel enthalten sind.

(2) Dr. Bakers Ansichten zu diesem Thema, wie sie hier zum Ausdruck kommen, wurden dem Autor in einem privaten Gespräch mitgeteilt.

(3) Ein solches Zusammendrängen in großen Gruppen ist ein weiteres Symptom der allgemeinen Neurose.

 

 

zuletzt geändert
18.09.19

 

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