SOZIALE ORGONOMIE
Paul Mathews (1924-1986)

 

Über Panzerung, Krieg und Frieden(*)

Paul Mathews, M.A.

The Journal of Orgonomy vol. 5/2, 1971
The American College of Orgonomy
übersetzt von Robert Hase

 

Das Problem des Krieges hat die Menschheit im Laufe der Geschichte immer wieder heimgesucht. Krieg im Sinne von Massen von Individuen, die sich im Kampf auf Leben und Tod gegenüberstehen, entstand wahrscheinlich mit den ersten menschlichen Gemeinschaften, in denen die bloße Familienidentifikation hin zum Clan, Stamm und Dorf erweitert wurde. In der mesolithischen Periode (8000 v.Chr. – 4000 v.Chr.) wurden bessere Werkzeuge und Waffen entwickelt, was zu Überschüssen an Nahrungsmitteln, Werkzeugen und Schmuck führte. Dies wiederum führte zum Handel mit anderen Gemeinden und Dörfern. Hayes und Hanscom erklären (4): „Zur Verteidigung seines eigenen Besitzes lernte der Mensch Befestigungen anzulegen und bei Angriffen auf die Dörfer seiner Nachbarn verbesserte er seine Kampfmittel und -techniken.“ Das Wachstum von Städten, Staaten und Nationen produzierte Kriegerkasten, deren Funktion sowohl defensiv als auch aggressiv war, abhängig von den Erfordernissen, die mit ihren Loyalitäten und ihren persönlichen Ambitionen verbunden waren. Schließlich ermöglichte die industrielle Revolution eine Technologie, die immer umfangreichere und zerstörerische Kriege mit zunehmender Entpersönlichung hervorbrachte. In diesem Zusammenhang kann die moderne Guerillakriegsführung, abgesehen von ihren psychologischen strategischen Vorteilen, als ein Versuch weniger entwickelter Kräfte angesehen werden, den verheerenden Folgen einer hochentwickelten, technologischen Kriegführung auszuweichen.

In der Frühzeit erfüllten die Kämpfe zwischen einzelnen Männern und Stämmen eher die Kriterien des althergebrachten Totschlags (4). Das heißt, Töten und Krieg wurden von den unmittelbarsten und lebenswichtigsten Anforderungen des Überlebens motiviert. Die Entwicklung von höher entwickelten Mustern des Handelsverkehrs und der menschlichen Organisation fiel mit einer größeren Komplexität von Motivation und Verhalten zusammen, und Krieg wurde, wie Clausewitz (5) sagte, „eine Fortsetzung des politischen Verkehrs mit anderen Mitteln“.(1) „Politischer Verkehr“ hat jedoch eine viel breitere und tiefere Bedeutung als das bloße explizite Manövrieren für gesellschaftlichen Vorteil und Kontrolle. Freuds Werk macht klar, daß der Krieg aus Mechanismen unbewußter Motivation und aus kompensatorischen Antriebskräften resultiert, die auf Frustrationen der Triebe, insbesondere hinsichtlich sexueller Funktionen, beruhen. Reich legte später die bioenergetische Grundlage dieser Motive und Antriebe bloß. Freuds pessimistische Abhandlung über die Wesensart der Zivilisation (6) kam zu dem Schluß, daß Verdrängung, Sublimierung und Kompensation die notwendigen und sinnvollen Kosten der „Kultur“ seien. Reich widerlegte natürlich dieses Heraufbeschwören der Erbsünde und demonstrierte, daß die menschliche Inhumanität auf sekundäre Triebe zurückzuführen ist, die durch die Repressionen einer neurotischen Zivilisation geschaffen wurden (7). Wie die Dinge freilich liegen, ist politische Macht wahrscheinlich die ultimative Kompensation des Menschen und das Führen von Kriegen seine ultimative Waffe. Das liegt daran, daß sie dem Machthaber die größte Chance bieten, das Leben einer Vielzahl von Menschen zu manipulieren und zu kontrollieren, sowohl zu seiner eigenen Verteidigung als auch als Ventil für den Haß und die Destruktivität seiner unbefriedigten Bedürfnisse. Der emotionelle Pestcharakter ist von daher am anfälligsten, sich bei seinen todbringenden Aktivitäten auf dieses unübertreffliche Ventil zu konzentrieren. Expansionistische Kriege werden somit zum Vehikel, durch die zunehmende Kontrolle über immer größere Menschenmassen ausgeübt wurde. Natürlich werden die Gründe für diese Kriege gut rationalisiert als im Interesse dieses oder jenes Nationalstaates, menschlicher Befindlichkeiten oder göttlicher Wesen stehend.

Genauso schuldig wie die Führer sind, wie Reich gezeigt hat (3), deren Anhänger. Deren Charakterstruktur begünstigt diese Führer, die Ausfluß der eigenen sadomasochistischen Bedürfnisse ihrer Anhänger sind:

Die modernen, aus dem Erforschung der Tiere abgeleiteten Vorstellungen, daß es im Menschen entweder einen „territorialen Imperativ“ (8) oder einen natürlichen destruktiven Trieb (9) gibt, sind, wie ich meine, Trugschlüsse als Erklärung für wiederkehrende Kriege. Sie unterscheiden nicht zwischen gesunder, natürlicher Aggression (primäre Triebe) und destruktiven Impulsen (sekundäre Trieben). Die Blockierung des Orgonenergie-Flusses im Organismus und der daraus resultierende Panzerungsprozeß schaffen die sadomasochistische Struktur des Menschen, der ständig mit sich und anderen Krieg führt. Die Massenkonfrontation auf dem Schlachtfeld ist in diesem Sinne die makrokosmische Erweiterung des inneren, mikrokosmischen Kampfes des Menschen.

„Frieden“ ist im Wesentlichen ein bioenergetischer Zustand, der die natürliche Orgonenergie-Pulsation im Körper widerspiegelt. Der soziale Frieden ist identisch mit der biologischen Befriedigung. In der Geschichte des Menschen gab es selten einen echten sozialen Frieden, nicht nur eine Pause vor dem Sturm. Selbst in Zeiten großer Kreativität, Erfindungen und Entdeckungen befanden sich die Menschen ständig im Krieg. Wann immer es Frieden gab, bestand er eher unter Einzelpersonen oder kleinen Gruppen als unter großen Teilen der Gesellschaft. „Außerdem“, so Dr. Elsworth Baker, „wird jede systematische Bemühung, seine [des Menschen] Destruktivität wieder zu korrigieren, selbst zur Zerstörung. Die brüderliche Liebe des Christentums wurde zur Inquisition; der Versuch, religiöser Verfolgung zu entgehen, verwandelte sich in die Hexenjagd von Salem; der Sturz der Tyrannei des Zaren führte zu der noch schlimmeren Tyrannei des Kommunismus“ (10, S. 28). Die Bedeutung dieses abgründigen menschlichen Zustandes kann über funktionelle biologische Einsichten als Kampf des Menschen um die Befreiung von der Panzerung verstanden werden. Reich erklärte:

Alle diese Kriege, all das Chaos jetzt – wissen Sie, was das für mich ist? Die Menschheit versucht, ihr Zentrum wiederzugewinnen, ihr lebendiges, gesundes Zentrum. Aber bevor es erreicht werden kann, muß die Menschheit diese Phase des Mordes, des Totschlags und der Zerstörung überwinden. Das, was Freud den Destruktionstrieb nannte, findet man in der mittleren Schicht. Ein Stier ist verrückt und zerstörungswütig, wenn er frustriert wird. Mit den Menschen ist es genauso. Das heißt, bevor man zu den wahren Dingen gelangt – Liebe, Leben, Rationalität – muß die Hölle durchschritten werden. Das ist von großer Tragweite für die gesellschaftliche Entwicklung. (11, S. 73)
Leider ist es gerade dieser Aspekt von Reichs Denken, der von neurotischen Anarchisten und „Revolutionären“ aufgegriffen wurde, um ihre Handlungsweise für gültig zu erklären. Was sie nicht verstehen, ist, daß primäre Ergebnisse nicht mit sekundären Mitteln erreicht werden können; daß unverantwortliche, zügellose Destruktivität sich nur verewigt und das Eintreten des Weltuntergangs beschleunigt. Reich hat das klargestellt, als er schrieb: „Nichts verschaffte mir tödlichere Feinde, nie waren mein Leben, meine Freiheit, mein Glück stärker bedroht als durch diese Bewegung, die von Befreiern geführt wurde, die die Gesetze der verantwortlichen Freiheit nicht kannten“ (11, S. 77). Aus diesem Grund verzweifelte Reich an der erwachsenen Menschheit und betonte die Arbeit an Kindern und Kleinkindern.

Bisher haben wir die Kriege der Zivilisation als Produkt der Neurosen der Zivilisation behandelt – als wirkliche Biopathien. Tatsächlich können wir tragfähige Analogien zwischen klassischen und funktionellen Interpretationen von physischen und sozialen Biopathien ziehen. Zum Beispiel beruht die klassische Interpretation der kardiovaskulären und Krebs-Biopathien hauptsächlich auf chemischen Ernährungsfaktoren, einer gewissen Anerkennung von physischem Streß und vagen Vorstellungen von emotionalen Faktoren, während die bioenergetischen Faktoren nie berührt werden. Das funktionelle Verständnis dagegen gelangt zu den Kernfragen von orgonotischer Pulsation, Panzerung und orgastischer Impotenz. In ähnlicher Weise befaßt sich die klassische Interpretation einer sozialen Biopathie wie Krieg hauptsächlich mit sozio-ökonomischen Faktoren, zeigt nur eine sehr vage Kenntnis emotionaler Faktoren und berührt niemals die bioenergetischen Faktoren. Selbst die vorgeblich anarchistische, „anti-alte-schule-kommunistische“ Neue Linke plappert noch immer die antikapitalistischen, antiimperialistischen Platitüden des Roten Faschismus daher, beweihräuchert das Maoistische China und seine internationalen Ableger, verurteilt Freud und verzerrt die funktionellen, orgonomischen Aspekte von Reichs Werk und lehnt sie zugunsten seiner früheren marxistischen Schriften ab. Hier haben wir ein weiteres perfektes Beispiel für den heutigen „biologischen Rechenfehler im menschlichen Freiheitskampf“. Um wieder Reich zu zitieren:

Jetzt zu den Kommunisten: ich war nie ein Kommunist im üblichen Sinne. Ich war nie ein politischer Kommunist. Ich möchte, daß Sie das betonen. Niemals. Oh ja, ich habe in der Organisation gearbeitet. Ich habe mit ihnen zusammengearbeitet. Ich war überzeugt, daß der Kapitalismus schlecht ist, aber ich glaube heute nicht mehr, daß das Elend durch den Kapitalismus verursacht wurde. (11, S. 77)
Die Ideologie der Neuen Linken von heute ist nicht mehr als eine Abwandlung des „Vulgärmarxismus“ der Alten Linken und ist in gewisser Hinsicht sogar weniger differenziert. Ihr Anspruch, eine biologische mit einer sozialen Revolution zu verbinden, wird durch ihre Losungen und Handlungen widerlegt, die keinerlei Verständnis für biologische Funktionen haben. Ironischerweise kommt sie in ihrem vermeintlichen Kampf gegen das autoritäre Patriarchat in dessen funktionellen Gegensätzen am stärksten zum Ausdruck – Zügellosigkeit, Gesetzlosigkeit, Pornographie – alles Kennzeichen des Roten Faschismus.(2)

Gibt es schließlich Kriterien für eine rationale Kriegsführung? Gibt es so etwas wie einen notwendigen Krieg? Die Antwort ist ja, solange die organisierte Emotionelle Pest fortbesteht, um die menschliche Freiheit und das Überleben zu bedrohen. Wir können die folgende Analogie aufstellen: Es ist bedauerlich, daß Polizeibeamte benötigt werden, um die Bürger, die „leben und leben lassen“, vor Kriminellen zu schützen. Gäbe es keine Panzerung, keine sekundären Triebe, dann gäbe es keine Kriminellen und somit auch keinen Bedarf für die Polizei. Sobald die Kräfte der Zerstörung entfesselt sind, muß sich der Mensch selbstverteidigen – egal wie sehr er den Krieg und die Existenz der Polizei beklagt. Die Beschwichtigung des Kriminellen oder der Pest führt nur zur Katastrophe.

Aber selbst innerhalb der gepanzerten Struktur der menschlichen Gesellschaft gibt es eine Hierarchie von besseren und schlechteren Systemen. Die besseren Systeme sind jene, die Hoffnung in Richtung Freiheit und Selbstbestimmung und der gesünderen Entwicklung von Säuglingen und Kindern bieten. Reich empfand, daß die westlichen Demokratien, insbesondere die Vereinigten Staaten, die besseren und gesünderen Systeme (3 und 11 und in persönlichen Mitteilungen) gegenüber den schwarzen und roten faschistischen Systemen von Nazi-Deutschland, dem faschistischen Italien und der gesamten kommunistischen Welt sowie den starren alten Patriarchien Asiens repräsentierten. Es ist also kein Zufall, daß die größten Umwälzungen heute in den Vereinigten Staaten stattfinden (veranlaßt von ihren Todfeinden, die die stärkste Bastion der menschlichen Hoffnung und Freiheit in der kranken Welt nicht tolerieren können), wo die Freunde des wahren Fortschritts nicht nur gegen die überkommenen Dinge, die Veränderungen brauchen, kämpfen müssen, sondern auch gegen diejenigen, die die Dinge vorzeitig und irrational ändern möchten.

Einige fragen, ob es nicht besser wäre, die gesamte gepanzerte Gesellschaft im Interesse einer Umstrukturierung hin zu einer neuen und besseren Welt zu zerstören. Das ist das Hauptunterfangen aller utopischen Revolutionäre. Das Problem ist, daß Gesellschaften Erweiterungen und Ausdrucksformen des Menschen und seiner orgonotischen Funktionen sind. Die Umstrukturierung eines Patienten in der Orgontherapie ist ein kontrollierter und schrittweiser Prozeß. Der Patient selbst ist der beste Führer des Therapeuten in Bezug auf die Vorgehensweise, der tolerierbaren Veränderungsgeschwindigkeit und der Fähigkeit zur Entpanzerung. Ein unangemessener Druck oder eine erzwungene Veränderung könnte ihn zurückwerfen und sogar zu einer Katastrophe führen. Bei gesellschaftlichen Massenphänomenen vervielfacht sich die Gefahr astronomisch. Es gibt weder die Kontrolle noch die systematische Methode für eine rationale Veränderung. Wahrheits- und Freiheitskrämerei(3) kann entweder nur zu katastrophalen Ausbrüchen führen oder in soziopolitischen Repressionen und Regressionen der einen oder anderen Art münden. Zeitgenössische Ereignisse unterstreichen diesen Punkt nur. Auch ist zu konstatieren, daß der natürliche Vorstoß der Orgonenergie, frei von ihrer Panzerung zu sein, zuweilen eher trotz statt aufgrund neurotischer und psychopathischer Problemlösungen erfolgreich ist.

Gab es denn in der Vergangenheit keine gerechtfertigten Gewalttaten und Revolutionen? Diese Frage ist schwierig, die Antwort heikel. Zweifellos ist gerechtfertigte Gewalt in Übereinstimmung mit den zuvor genannten Überlebenskriterien aufgetreten, von den antiken Gefechten für die Freiheit bis hin zum amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und dem zeitgenössischen Kampf gegen den Schwarzen und Roten Faschismus. Wenn ein neurotisches Individuum gegen einen Unterdrücker auf neurotische Weise kämpft, mag das gerechtfertigt sein, aber es lädt nur zu seiner eigenen Vernichtung ein. Es sollte auch daran erinnert werden, daß die Gewalt der Vergangenheit nicht die Gefahr eines totalen planetenweiten Aussterbens mit sich brachte. Das atomare Damoklesschwert schwebt ominös über der gesamten Menschheit. Um so wichtiger ist es, bei der Bewertung aller Aspekte gesellschaftlichen Handelns, sei es in Bezug auf Rasse, Ökologie oder Krieg, größte Vorsicht walten zu lassen. Moderne Kommunikationsmedien haben aus allen Facetten des menschlichen Verhaltens ein Instrument des „politischen Verkehrs“ gemacht. Zweifellos holen wir die Ernte des neurotischen Irrtums und der Untätigkeit der Vergangenheit ein, besonders hinsichtlich der Beschwichtigung der Emotionellen Pest. Auch hat dieser Prozeß, den jüngsten Ereignissen angesichts der „Ping-Pong-Diplomatie“ nach zu urteilen, nicht aufgehört. Das Ergebnis ist, daß wir uns jetzt mit einer nuklear bewaffneten, organisierten Emotionellen Pest konfrontiert sehen.

Nach welchen Kriterien bestimmen wir die „besseren“ und „schlechteren“ Gesellschaften einer gepanzerten Welt – jene, die zu verteidigen und jene, die zu bekämpfen sind? In einem Artikel, der sich mit der Frage des HUAC (House Un-American Activities Committee)(4) befaßte, schrieb Reich folgendes (12):

Laßt uns den Namen des Komitees in „Kongreß-Komitee zur Sicherung des Prozesses in Richtung Selbstverwaltung des Volkes“ ändern. (5) Mit dieser Formulierung wird nicht nur die Bloßstellung des Feindes der Selbstverwaltung möglich, sondern auch die ZIELSETZUNG SELBST, die die Tätigkeit eines solchen Komitees rechtfertigt, ist klar definiert ... Nun wird es die Pflicht des Liberalen sein, den Feind der Selbstverwaltung zu bekämpfen, und er wird sich aus der Zwangslage befreien, in der er sich gegenwärtig befindet, wenn er als Verteidiger seines ärgsten Feindes auftritt ... . Indem wir das Ziel der Selbstverwaltung vom Ziel der Auslöschung der Selbstverwaltung, wie sie von den Diktatoren vertreten wird, unterscheiden, werden wir nicht länger den schweren und sogar katastrophalen Fehler begehen, diktatorische Regime fälschlicherweise als Sonderform der Demokratie darzustellen.

... wir könnten mit der KP zusammentreffen und sagen: „Kommt schon. Sagt den Menschen die Wahrheit: daß ihr ihnen das Recht nehmen werdet, zu sagen, was sie denken; die gesellschaftliche Verwaltung bekämpft, wenn sie von der vorgeschriebenen Linie abweicht: mit Hilfe der gesellschaftlichen Einrichtungen selbst bestimmen, was sie mit ihrem Leben anfangen wollen; als Arbeiter die ganze Verantwortung in jedem Bereich der sozialen Existenz übernehmen; daß ihr jeden einsperren, hängen, foltern werdet, der eine andere Meinung als der Staatsapparat hat; daß ihr das Recht beseitigen werdet von der Arbeit fernzubleiben oder einen Beruf oder einen Arbeitsplatz zu wählen; daß ihr einen einzelnen Mann oder eine kleine Gruppe von Männern dazu erklären werdet, in der Lage zu sein, stellvertretend für zwei Milliarden Menschen zu denken, zu entscheiden, zu hinterfragen, zu zweifeln und zu handeln, für sie und anstelle von ihnen.“
Wenn wir zu diesen Worten Reichs seine Sorge um die genitale Gesundheit von Säuglingen und Kindern als zusätzliches Kriterium hinzufügen, haben wir einige ausgezeichnete Wegweiser für die Beantwortung der gestellten Frage aufgerichtet. Im Wesentlichen können die Gesellschaften, die den größten Freiraum bieten als Individuum zu funktionieren, mit minimaler Panzerung und maximalem Potential für genitale Gesundheit, als die besseren bzw. gesünderen angesehen werden. Reich selbst hat den Erzfeind all dieser Kriterien – den Roten Faschismus – in all seinen Formen und Verkleidungen benannt und angeprangert. Betrachten wir die folgende Tabelle:

Diese Tabelle schließt nicht aus, daß auch die „bessere“ Gesellschaft ihre gravierenden Mängel aufweist, wie Ungerechtigkeiten, Rassenvorurteile, reaktionäre Einstellungen und ökonomische und ökologische Kurzsichtigkeit. Sie zeigt lediglich, daß es noch Raum für einen rationaleren, verantwortungsvolleren und humaneren Ansatz zur Lösung der Probleme gibt, die die Menschheit plagen; während die rotfaschistische Welt, die die „schlimmsten“ Gesellschaften verkörpert, rücksichtslos jeden Versuch zur menschlichen Freiheit abwürgt, während sie fromme Platitüden über das Wohlergehen der Menschheit deklamiert.

Die obigen Beobachtungen sind ein Versuch, die Kriterien zu bestimmen, wann ein Krieg notwendig sein könnte. Sie sollten jedoch nicht als ein Argument für Krieg interpretiert werden. Vielmehr ist es ein Mittel, um seine Freunde und Feinde einzuschätzen, wenn man sich für eine Seite entscheiden muß. Der ausschlaggebende Faktor sind die Beweggründe selbst. Der Vietnamkrieg beispielsweise ist in seiner Entwicklung von der französisch-indochinesischen Konfrontation über die lange Geschichte von Tod und Zerstörung auf allen Seiten höchst komplex und daher schwer zu bewerten. Und dieses Wirrwarr wurde durch die für die Roten Faschisten charakteristischen Techniken der psychopolitischen Kriegsführung noch verstärkt, die durch die unorganisierte Emotionelle Pest und die gewöhnlichen Neurosen der Massen unterstützt und begünstigt werden. Das eigentliche Problem, das indessen auf dem Spiel steht, ist das Recht einer Nation, sich gegen die Aggressionen durch eine alles verschlingende Emotionelle Pest zu verteidigen. Die Fähigkeit der Menschheit, diese Unterschiede zu verstehen, wird ihr Überleben und die Chancen für Freiheit und Glück bestimmen. Diejenigen, die die Demütigung Amerikas von Seiten des rot-faschistischen Feindes begrüßen, applaudieren entweder ihrem eigenen Tod oder dem Sieg einer Pest, mit der sie sich identifizieren.

In unserer gepanzerten Welt ist die einzige Hoffnung, den Krieg zu verhindern, die Bereitschaft und der Wille, die Pest zu bekämpfen. Die Emotionelle Pest versteht keine andere Sprache, kennt aber sehr wohl den Wert von „Friedens“-Kampagnen, um ihre Feinde zu schwächen. Ehrbare Völker und Gesellschaften haben stets an die Illusion geglaubt, daß Beschwichtigung, „Deeskalation“, „Moratorien“ und „Verhandlungen“ die Pest zur Einkehr und Einsicht bringen könnten. Die Geschichte hat immer wieder den Trugschluß dieses Konzepts gezeigt. Wie erklärt man den konsequenten Irrtum und die Blindheit der Menschen? Ein Teil der Antwort wurde in früheren Artikeln (1 und 2) behandelt. Vor allem ist es – wie uns Reich gelehrt hat – eine Frage der Angst vor und der Identifikation mit der Emotionellen Pest. Die Panzerung des Menschen trennt ihn von seinem Kern, erzeugt emotionale Mattheit und Angst vor Aggression und paßt ihn schließlich aus Gründen der Abwehr und des Hasses an die Emotionelle Pest an.

Es scheint, daß ich mich hauptsächlich mit der Frage der Notwendigkeit von Kriegen befasse. Leider erzwingen die gegenwärtigen Weltbedingungen einen solchen Eindruck. Am wesentlichsten ist jedoch die Entwicklung jener Mittel, mit denen mit einem Minimum an Gewalt gesunde und demokratische Ziele erreicht werden können, damit letztlich die Kriegsführung als „politischer Verkehr mit anderen Mitteln“ beendet wird. Es ist schwierig, sich ein solches Allheilmittel in naher Zukunft realistisch vorzustellen, ungeachtet von „the greening of America(6), der Hippiekultur, der Woodstock Nation(7) und des modernen Liberalismus. Tatsächlich nimmt der Pessimismus angesichts des Verhaltens dieser Gruppen sowie des Trends zur Verzerrung von Reich und der Orgontherapie durch so genannte Encounter Groups, Frauenbefreiung und den „Urschrei“ zu. Natürlich kommt in all diesen Gruppen ein Minimum an Wahrheit zum Ausdruck, aber sie sind wie ein fast völlig blinder Mann, der beim Anblick eines vagen Lichtstrahls am Rande eines Abgrunds wild darauf zu stolpert.

Da Krieg nach orgonomischer Definition die Fortsetzung des Krieges des Menschen mit sich selbst auf andere Weise ist (um es mit Clausewitz zu umschreiben), kann nur die Lösung seines inneren Dilemmas ihn beenden. Jene Gesellschaften, die eine Möglichkeit zu dieser Lösung bieten, müssen sowohl verteidigt als auch verbessert werden. Die Untersuchung von und die Arbeit mit Säuglingen und Kindern muß unermüdlich fortgesetzt werden. Die Emotionelle Pest in ihren vielen Erscheinungsformen muß aufgedeckt und erklärt werden. Nur so können wir jemals hoffen, die Prophezeiung Reichs in Christusmord zu erfüllen: „BIS JETZT GAB ES WEDER KULTUR NOCH ZIVILISATION. BEIDE SIND GERADE DABEI, IN DAS GESELLSCHAFTLICHE LEBEN EINZUDRINGEN. DAS IST DER ANFANG VOM ENDE DES CHRONISCHEN CHRISTUSMORDES“ (13, S. 372).

 

Literatur

  1. Mathews, P.: „A Functional Understanding of the Modern Liberal Character“, Journal of Orgonomy, 1:138-48, 1967
  2. Mathews, P.: „The Biological Miscalculation and Contemporary Problems of Man“, Journal of Orgonomy, 4:111-25, 1970
  3. Reich, W.: Die Massenpsychologie des Faschismus. Frankfurt: Fischer Taschenbuchverlag, 1974
  4. Hayes, C.J.H. und Hanscom, J.: Ancient Civilizations. New York: Macmillan, 1968
  5. Clausewitz, K. von: Vom Kriege. Berlin 1832–1834
  6. Freud, S.: Das Unbehagen in der Kultur. In: STUDIENAUSGABE, Bd. IX, Hrsg. A. Mitscherlich, A. Richards, J. Strachey, München: S. Fischer Verlag, 1980
  7. Reich, W.: Charakteranalyse. Köln: KiWi, 1989
  8. Ardrey, R.: The Territorial Imperative. New York: Dell Publishing Co., 1966
  9. Lorenz, K.: Das sogenannte Böse. Wien: Dr. G. Borotha-Schoeler Verlag, 1963
  10. Baker, E.F.: Der Mensch in der Falle. München: Kösel, 1980
  11. Higgins, M. und Raphael, C., Hrsg.: Wilhelm Reich über Sigmund Freud. Schloß Dätzingen 1976
  12. Reich, W.: „A Dilemma in Social Self-Government“, Orgone Energy Bulletin, 1:124-37, 1949
  13. Reich, W.: Christusmord. Freiburg: Walter, 1978

 


Fußnoten

(*) Dies ist der dritte in einer Reihe von Artikeln (1 und 2), die sich mit den Problemen des Menschen aus funktioneller Sicht befassen. Alle diese Artikel basieren auf Wilhelm Reichs Konzept „Der biologische Rechenfehler im menschlichen Freiheitskampf“ (3, S. 281-317).

(1) ANMERKUNG DES ÜBERSETZERS: Das Zitat wird von Mathews verkürzt wiedergegeben. Es lautet: „Der Krieg ist nichts als eine Fortsetzung des politischen Verkehrs mit Einmischung anderer Mittel, um damit zugleich zu behaupten, daß dieser politische Verkehr durch den Krieg selbst nicht aufhört, nicht in etwas anderes verwandelt wird, sondern daß er in seinem Wesen fortbesteht, wie auch die Mittel gestaltet sein mögen, deren er sich bedient.“

(2) Vgl. das obige Schema der „Massenpsychologie des Faschismus“. Man beachte auch die politische und pornographische Verzerrung von Reichs Werk im Film „WR – Mysterien des Organismus“ des jugoslawischen Kommunisten Dusan Makavejew. (Siehe das Editorial von E.F. Baker über den Film im Journal of Orgonomy [5(2), November 1971] und die Rezension des Films von J.M. Bell und B.G. Koopman in der gleichen Ausgabe dieser Zeitschrift]).

(3) Das waren Begriffe, die Reich für jene Menschen prägte, die sofortige „Wahrheit“ und „Freiheit“ für unvorbereitete Massen propagieren und die sowohl verantwortungslos sind, als auch neurotische bzw. pathologische Beweggründe haben.

(4) ANMERKUNG DES ÜBERSETZERS: Komitee für unamerikanische Umtriebe, 1934-75 (wechselnde Bezeichnungen), sollte Unterwanderung durch Anhänger des deutschen Nationalsozialismus, später durch Kommunisten und deren Sympathisanten untersuchen und geeignete Gesetzesentwürfe vorlegen.

(5) ANMERKUNG DES ÜBERSETZERS: “Congressional Committee To Safeguard The Process Toward Self-Government Of The People”.

(6) ANMERKUNG DES ÜBERSETZERS: The Greening of America: How the Youth Revolution Is Trying to Make America Livable ist ein 1970 erschienenes Buch von Charles A. Reich. Es ist eine Hommage an die Gegenkultur der 1960er Jahre und ihrer Werte. Das Buch mischte soziologische Analysen mit Lobeshymnen auf Rockmusik, Cannabis und Blue Jeans und argumentierte, daß diese Moden eine grundlegende Veränderung der Weltanschauung verkörperten.

(7) ANMERKUNG DES ÜBERSETZERS: Sammelbegriff der Babyboomer-Generation in den Vereinigten Staaten, die sich den Werten der amerikanischen Gegenkultur der 1960er und frühen 1970er Jahre verschrieben haben. Zu den charakteristischen Merkmalen der Mitglieder der Woodstock-Nation gehören unter anderem die Sorge um die Umwelt, die Einbeziehung linker politischer Fragestellungen und Lösungen, verbunden mit einem ausgeprägten Sinn für politischen Aktivismus, Verzicht auf traditionelle Geschlechterrollen, Vegetarismus und Enthusiasmus für die Musik der Zeit.

 

 

zuletzt geändert
06.06.19

 

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