Der Aufstieg des Psychopathen
Barbara G. Koopman, M.D., Ph.D.
Journal of Orgonomy vol. 7/1, 1973 The American College of Orgonomy
übersetzt von Robert Hase
Ein mir bekannter Top-Analytiker bemerkte kürzlich: „Die heutigen Jugendlichen haben alle sexuelle Freiheit, die sie wollen – sie geben sich ihr nach Herzenslust hin. Doch wenn ich sie auf meiner Couch sehe, stelle ich fest, daß sie genauso viele sexuelle Probleme haben wie ihre Pendants von vor zwanzig Jahren: Frigidität, Impotenz, wilde Promiskuität, sexuelle Frustration, unstillbare Suche nach dem Nervenkitzel. In der Tat geht es ihnen vielleicht schlechter. Die sexuelle Revolution hat ihnen überhaupt nicht geholfen!“ Diese Ergebnisse entsprechen der Beobachtung vieler heutiger Orgonomen. Der problemlose Zugang zu Sex und Empfängnisverhütung hat unsere Jugendlichen nicht befreit.
Was ist schiefgelaufen? Anstatt sexueller Freiheit verbunden mit Verantwortung herrscht Zügellosigkeit. Anstelle einer ernsthaften sexuellen Verpflichtung ist das mit jemandem Schlafen so beiläufig geworden wie ein Bier zusammen trinken. Statt der Belastbarkeit und Reife, die mit der orgastischen Potenz einhergeht, gibt es eine nicht enden wollende Anspannung, die den verzweifelten Organismus dazu treibt, seinen Frieden in Drogen, im Rückzug oder der gewaltsamen Entladung auf dem gesellschaftlichen Schauplatz zu suchen.
Das obige Bild ist weit entfernt von dem selbstregulierten, genitalen Charakter, der aus der sexuellen Revolution hervorgegangen sein sollte. Was ist schiefgelaufen?
Unterdrückung gegen Selbstregulierung
Untersuchen wir die Grundprinzipien der sexuellen Revolution, wie sie von Reich circa 1935 dargelegt wurden (1): Eines davon war der Schutz der genitalen Rechte von Kindern und Jugendlichen nach sexualökonomischen Grundsätzen. Das andere war die Ersetzung der patriarchalischen Familie durch die natürliche Familie. Beide umfaßten Erziehungspraktiken, die auf Selbstregulierung und der Abschaffung der sexuellen Zwangsmoral gründeten. Reich glaubte zunächst, ein solches Programm sei eng mit dem Klassenkampf nach marxistischem Konzept verbunden. Er wurde schnell von den Marxisten enttäuscht und brach mit ihnen vollständig – eine historische Tatsache, trotz der gegenwärtigen Bemühungen der Neuen Linken, Reich als einen der ihren zu beanspruchen. 1944 erklärte Reich ausdrücklich, das Problem sei nicht der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat und daß es hinsichtlich der Charakterstruktur keine Klassengrenzen gebe. Er bemerkte weiterhin, daß die gesellschaftliche Ideologie kein Spiegelbild der ökonomischen Zustände sei, sondern daß sowohl die Ideologie als auch die Ökonomie in der psychischen Struktur der Massen verankert seien.
Reichs ganze Sorge galt jeder Facette des menschlichen Elends, er war jedoch der Ansicht, daß das Kernproblem die kranke Charakterstruktur des Menschen sei, die von Energieblockaden im Organismus herrührt. Die Hauptschuldigen sah er in der Sexualmoral und ihrer Dienstmagd, der religiösen Mystik, die die Massen davon abhalten, Herren ihres eigenen Geschicks zu werden. Im Jahre 1949 mahnte er, daß die Zukunft der Welt von der Lösung des Problems der Charakterstruktur der Massen abhängt.
Die Rolle der blockierten Energie bei der Entstehung von Neurosen ist von Reich ausführlich behandelt worden. Ich möchte hier nur einige Grundbegriffe streifen, um zu verdeutlichen, was ich als gegenwärtige Entwicklung betrachte.
Der Leser wird sich daran erinnern, daß die sexuelle Zwangsmoral zu sexueller Unterdrückung im Rahmen der patriarchalischen Familie führt. Freuds Libidotheorie wirft ein beträchtliches Licht auf diesen Prozeß. Nach Freud kommt jedes Individuum mit einem bestimmten Quantum an psychischer Energie auf die Welt. Zunächst ist es eine rein „narzißtische“ Energie, die sich ganz auf das Selbst konzentriert. Nach und nach greift diese Energie wie die Pseudopodien einer Amöbe aus und bindet sich an die Welt der Objekte (oder, strenggenommen, an ihre „mentalen Repräsentationen“). Wenn der Prozeß einigermaßen erfolgreich ist, entwickelt die Person die Fähigkeit zu zufriedenstellenden Objektbeziehungen. Dies geht Hand in Hand mit einer gewissen Reifung und Integration des Ichs. Manche Menschen kommen nie weit über dieses Stadium des Narzißmus hinaus und ihre Objektbeziehungen verharren zusammen mit ihrer Ich-Struktur auf einer primitiven, prägenitalen Stufe.
Im Verlauf der Ich-Entwicklung muß sich die psychische Energie durch verschiedene erogene Zonen bewegen – oral, anal, phallisch und genital – von denen jede ihre eigenen charakterologischen Merkmale aufweist. Jede Fixierung oder Regression von Energie in den ersten drei Zonen wird die Persönlichkeit ihren Stempel aufdrücken und ein bestimmtes Quantum psychischer Energie binden – das dem Ich nunmehr nicht mehr zur Verfügung steht und zu einer Einschränkung führt. Wenn sich die Person normal entwickelt, bewegt sich die Energie auf natürliche Weise von einem Stadium zum nächsten, ohne gebunden zu werden, und das genitale Primat wird erreicht. Das Genital wird zum Hauptkanal für die Entladung der sexuellen Energie. Jegliche prägenitalen Restmengen werden im Vorspiel abgebaut und bleiben nicht dem Charakter eingeprägt. Das genitale Primat signalisiert die vollständige Reifung des Ich.
Dieser Prozeß der Ich-Entfaltung wird von der Charakterstruktur der Eltern bzw. Elternsurrogate zutiefst beeinflußt und ist durch Krisen von Realitätsprüfungen, drohenden oder realen Verlusten und Trennungen, Bewältigungs- und Identifikationskonflikten usw. geprägt, die schließlich in der ödipalen Krise (im Alter von vier Jahren) gipfeln. Wie mit diesen Wechselfällen umgegangen wird, bestimmt die letztendliche Persönlichkeit. Freud und Reich divergieren darin, wie sie gehandhabt werden sollen. Selbstregulierung, nicht sexuelle Unterdrückung, war Reichs Antwort auf das Problem, gesunde Kinder aufzuziehen.
Um den Unterschied zu würdigen, betrachten wir das klassische Konzept der Verdrängung als einen Abwehrmechanismus, bei dem das Ich den verbotenen Trieb oder eine seiner Abkömmlinge bzw. Fantasien vom Bewußtsein ausschließt. Sobald dies geschieht, wird der Originaltrieb aus dem Bewußtsein verbannt, als hätte es ihn nie gegeben. Er hat jedoch weiterhin eine eigene energetische Existenz und drängt weiter auf Entladung. Um dies zu verhindern, verbraucht das Ich viel Energie bei dem als Gegenbesetzung bekannten Prozeß. Es gibt einen dynamischen Widerstand, den Trieb außen vor zu halten und das Ich zahlt den Preis für die „gebundene“ Energie und einen eingeschränkten Reaktionsspielraum. Zunächst kommt es zur Symptombildung, aber, wie Reich betonte, führt die Schichtung von blockierten Trieben und den Gegenbesetzungen schließlich zu einem sehr aufwendigen Überbau, den er als Charakterpanzerung bezeichnete. Der somatische Ort der Panzerung spiegelte das Entwicklungsstadium wider, in dem die Verdrängung erfolgt ist.
Für Freud war die „psychische Energie“ eine Metapher, während sie für Reich eine physische objektive Existenz als „Orgonenergie“ hatte, die er experimentell nachweisen konnte. Reich argumentierte, daß ein Mensch zur Erhaltung seiner Gesundheit einen geordneten Energiestoffwechsel haben müsse, was eine periodische Entladung durch einen genitalen Orgasmus erforderlich mache. Die Fähigkeit dazu bedeutete emotionale Reife (Genitalprimat) und Freiheit von somatischer Panzerung (pulsierende Motilität). In Ermangelung dieser Fähigkeit würde die libidinöse Energie im Organismus aufgestaut (Stase) und bilde den somatischen Kern der Neurose. Als Hauptursache dieser Stauung sah er die sexuelle Unterdrückung.
Mit dieser Ansicht entfernte sich Reich radikal vom analytischen Rahmen (obwohl er einen großen Teil von Freuds Theorie der psychosexuellen Entwicklung beibehielt). Es ist außerdem diese Sichtweise, die größtenteils den Anlaß zu den Entstellungen und Fehlinterpretationen über Reich geführt hat. Während Freud das Kind als triebdominierte Bestie sah, die durch sexuelle Unterdrückung (Frustration des ödipalen Inzestwunsches) gezähmt werden muß, sah Reich in der sexuellen Repression die Wurzel der Krankheit des Menschen.
Einer von Freuds monumentalen Beiträgen war die Entdeckung von sexuellen Regungen in der Kindheit; eine Enthüllung, die die wissenschaftliche Welt auf den Kopf stellte. Zu diesen Regungen gehörten nicht nur alle Arten von „polymorph-perversen“ Tendenzen, sondern auch die berühmte und schockierende Enthüllung des Ödipus-Komplexes, wonach das Vierjährige den Elternteil des anderen Geschlechts begehrt und seinen Rivalen, den gleichgeschlechtlichen Elternteil, eliminieren möchte. Er vertrat ferner die Ansicht (obwohl nicht alle Analytiker ihm zustimmten), daß destruktive Triebe mitsamt den sexuellen ebenfalls angeboren (d.h. primär) seien. Daher sei Verdrängung unbedingt erforderlich, um die Schaffung hedonistischer Wilder zu vermeiden, die keinerlei integrierte moralische Abschreckung aufweisen. Kultur und Moral könnten ohne diese nicht existieren.
Reich hingegen hatte eine rousseauistische Sichtweise: Der Mensch im Zustand der Natur ist inhärent gut. Wenn man den Menschen in Harmonie mit der Natur erzieht, wird das Ergebnis gut sein. Aber das erfordert eine einheitliche Sicht des Menschen, die seine dualen Aspekte, psychologisch und physisch, zu einer einzigen Gesamtheit vereint, die von Energiefunktionen reguliert wird. Der Mensch ist ein pulsierendes Wesen, dessen Energie ständig Psyche und Soma, Kern und Peripherie aktiviert. Darüber hinaus erzeugt er kontinuierlich ein Orgonenergiefeld, das mit dem der anderen sowie mit dem atmosphärischen Orgon in Resonanz steht und interagiert.
Grundlegend für dieses Konzept ist die Akzeptanz eines Sexuallebens für Kinder auf altersgerechtem Niveau. Reich glaubte, daß Kindern die Entladung ihrer sexuelle Energie mit Gleichaltrigen zu erlauben, den ödipalen Wunsch von seiner libidinösen Aufladung befreien würde. Mit der Dekathexis(20) des Wunsches gäbe es keine Notwendigkeit, ihn zu unterdrücken. Selbstredend hat Reich niemals sexuelle Aktivitäten zwischen Kindern und Erwachsenen, inzestuöses Ausleben, elterliche Masturbation von Kindern oder die lüsterne Förderung sexueller Aktivitäten von Kindern durch Erwachsene befürwortet. Vielmehr beinhaltete sein Konzept die Nichteinmischung sowie den Schutz von sexuellen Äußerungen zwischen Gleichaltrigen als Teil der natürlichen Lebensfunktionen von Kindern. So sollte es Kindern erlaubt sein, in ihrer Privatsphäre zu masturbieren, sich zu umarmen oder sich gegenseitig sexuell zu erkunden. Sie sollten keinen Geschlechtsverkehr oder Nacktheit bei Erwachsenen erleben, da ihnen die energetische Fähigkeit fehlt, diese zu tolerieren. Aber wenn sie zufällig darauf stoßen, sollte kein Aufhebens darum gemacht werden. Wichtig war hier vor allem eine unterstützende, nicht pornographische Haltung der Eltern. Sexuelle Angelegenheiten sollten mit Feingefühl (nicht Prüderie), ernsthaft (nicht scherzhaft) und vor allem mit Verantwortungsbewußtsein behandelt werden.
Vor diesem Hintergrund wird Reichs Konzept der Selbstregulation, die an die Stelle der sexuellen Unterdrückung tritt, verständlicher.
Säuglinge werden auf Wunsch gestillt. Routinemäßige Beschneidung ist tabu. Kinder sollen essen dürfen, was sie wollen und sich selbst auf die Toilette setzen, wenn sie dazu bereit sind. Das Grundbedürfnis nach liebevollem Umgang soll gestillt werden, nicht aber die unüberlegte Befriedigung jeder Laune. Kindern soll beigebracht werden, die Rechte anderer zu respektieren, Maßnahmen für ihre eigene Sicherheit zu ergreifen und Freiheit mit Verantwortung zu verbinden.
All das steht in scharfem Kontrast zu dem harten Regime, das der Jugend durch sexuelle Unterdrückung auferlegt wird, angefangen von planmäßigen Fütterungen, strikten Toilettengängen und Masturbationsverboten bis hin zum absoluten Tabu für sexuelle Aktivitäten in Kindheit und Jugend. Das Endprodukt kann nur ein schuldbeladener, unsicherer, triebgehemmter Neurotiker sein.
Entsteht ein neuer Trend?
Kehren wir zu unserer ursprünglichen Frage zurück, was in der sexuellen Revolution schiefgelaufen ist. Zufällig kamen mir einige Gedanken zu dieser Frage in den Sinn, als ich gerade dabei war, Reichs The Impulsive Character (2)(21) zu übersetzen, eine klassische Monographie, die 1925 geschrieben wurde, die aber immer noch bedeutend und aktuell ist. Im Jahr 1925 ließ kein angesagter Analytiker jemals einen triebhaften Charakter in sein Büro kommen. Die Analytiker der damaligen Zeit beschäftigten sich hauptsächlich mit Neurotikern und deren Verdrängungen. Aber in der kostenlosen Klinik, die er leitete, hatte Reich seinen ersten Kontakt mit den mittellosen Schichten. Dies führte zu einer eingehenden Untersuchung einer Art von Charakterstörung, die er als „triebhaft“ bezeichnete und die eine starke Verwandtschaft mit dem Psychopathen aufweist. Obschon einige von Reichs Fällen kaum vom Schizophrenen zu unterscheiden sind, wird die Charakterstörung allgemein als ein Zwischentyp zwischen einem neurotischen Charakter (z.B. hysterisch, zwanghaft, etc.) und einem psychotischen angesehen. Wie dem auch sei, Reichs Studie über die Genese und Struktur des Triebhaften von 1925 hat unser Verständnis des gegenwärtigen Psychopathen erheblich bereichert.
Im heutigen Umfeld der scheinbaren sexuellen Freiheit weichen die alten Zwänge – doch die daraus hervorgehende Charakterstruktur ist weit entfernt von Genitalität. Ich glaube, daß sich in unserer Gesellschaft ein neuer Trend emotionaler Krankheiten abzeichnet: Der praktizierende Psychiater von heute sieht möglicherweise eine andere Art von Patienten im Entstehen – eine Übergangsform zwischen dem triebgehemmten Neurotiker und dem triebgesteuerten Psychopathen. Es ist der letztere Typus, der einige Gemeinsamkeiten mit dem von Reich beschriebenen triebhaften Charakter aufweist. Man muß sich nur im Fernsehen die Filme der 50er Jahre ansehen, um den eklatanten Wandel in der Kultur zu erkennen, der sich innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte vollzogen hat. Die jungen, anständigen Leute in diesen Filmen sehen für die abgestumpften Augen der „coolen Typen“ von heute wie „Spießer“ aus. Erstere sind die triebgehemmten neurotischen Typen, die in einer Atmosphäre der sexuellen Unterdrückung aufgewachsen sind, während unsere coolen „Hipster“ von heute eine lockerere psychische Struktur verkörpern, die von gemischten Übergangstypen bis, im Extrem, hin zum ausgewachsenen Psychopathen reicht.
Ich will damit nicht implizieren, daß die Mehrheit der heutigen jungen Menschen diese Entwicklung beispielhaft zeigen. Es gibt jedoch zwei Gruppen in unserer Gesellschaft, bei denen ich das Gefühl habe, daß sie erkennbar ist: die Gruppe der städtischen Hochschüler und die der Benachteiligten. Hier kann man ein breites Spektrum von Übergangstypen sehen, alle Formen von Neurotikern mit einem Hauch von Psychopathie (deren Kinder oder Enkelkinder zunehmend triebhafte Züge zeigen können) bis hin zu den ausgewachsenen, triebgesteuerten Psychopathen, die sich am äußersten Pol sammeln.
Reichs Triebhafter Charakter
Der Begriff „Psychopath“ bedeutet für viele Menschen mehrere Dinge. Die vielleicht populärste Vorstellung ist die des skrupellosen Hedonisten, der seinen Impulsen nachgeht, ohne das geringste Schuldgefühl oder Skrupel zu haben. In Wirklichkeit ist das Bild viel komplizierter und wird oft mit anderen Diagnosetypen vermischt. Hier kann Reichs Monographie ein beträchtliches Licht auf die Ätiologie und die hervorstechenden Merkmale dieses Typs werfen.
Nach Reich ist das Kennzeichen des Triebhaften ein schwerer Defekt in seiner Fähigkeit, Verdrängungsmechanismen zu nutzen. Er steht dabei im Kontrast zum triebgehemmten Neurotiker, der sich stark auf Verdrängungsmechanismen stützt, um sich gegen den Durchbruch unbewußter Wünsche zu wehren. Der letztere Typus kann Ängste binden, der erstere nicht.
Aber die Fähigkeit, Angst zu binden, wenn auch oft im Dienste der Neurose, zeugt immer noch von einem gewissen Maß an Ich-Reife. Hierin liegt ein zweites Unterscheidungsmerkmal: Der triebhafte Charakter leidet unter schweren Entwicklungsdefekten des Ichs. So ist der größte Teil seiner libidinösen Energie auf einem sehr primitiven Entwicklungsstadium festgelegt und er behält ein übermäßiges Maß an Narzißmus bei. Während sich alle prägenitalen Stadien bis hin zum Phallischen in seiner Struktur widerspiegeln, zeigt er eine extreme Instabilität und Brüchigkeit, ganz anders als jeder andere Typ. Die Fähigkeit zu sinnvollen Objektbeziehungen ist nicht entwickelt. Was an Objekten vorliegt, dient lediglich als Versorgungsquelle. Der Neurotiker zeigt ebenfalls viele prägenitale Komponenten, aber aufgrund seiner Fähigkeit, Energie zu binden, leidet er nicht unter der extremen Instabilität des Triebhaften. Der Triebhafte wird von sekundären (d.h. sadistischen, destruktiven) Trieben bombardiert, die seine unreife Ich-Struktur nicht eindämmen kann, während der Neurotiker in der Lage ist, eine Reaktionsbildung herbeizuführen, die den Durchbruch der antisozialen Triebe verhindert.
Aufgrund der Unreife des Ichs funktioniert der Triebhafte hauptsächlich nach dem Lustprinzip, d.h. sofortiger Befriedigung. Seine Frustrationstoleranz ist sehr gering. Gleichzeitig fehlt ihm aufgrund der gestörten libidinösen Ökonomie die Fähigkeit, Spannungen effektiv abzubauen. In Folge leidet er unter einer übermäßigen Ladungsspannung, die er weder, wie der Neurotiker, binden noch verdrängen kann. Das Ausagieren wird dann zu seiner einzigen Möglichkeit der Entladung.
In Der triebhafte Charakter untersuchte Reich sehr detailliert die Genese dieser Störung anhand von Fallgeschichten seiner klinischen Patienten. Zu dieser Zeit (1925) bewegte er sich noch innerhalb des psychoanalytischen Rahmens (wenngleich in der Monographie bereits Andeutungen seiner Abkehr erkennbar sind). So sind, erklärt der junge Reich, Triebunterdrückung und Sublimierung die Eckpfeiler der Kultur. Das infantile Lust-Ich muß eine Versagung erfahren, damit Reifung stattfinden kann. Damit einher geht die Etablierung der Realitätsprüfung und die Bildung von Objektbeziehungen. Aber jede Versagung führt zu einer Aufspaltung der libidinösen Energie. Einem Säugling die Brust anzubieten und sie ihm dann wieder zu entziehen stellt zum Beispiel die Dualität von Triebbefriedigung und Triebverweigerung dar – das früheste Modell für Ambivalenz. (Zu dieser Zeit wurde allgemein angenommen, daß ohne Ambivalenz keine psychische Entwicklung stattfinden könne.) Reich schlug vier mögliche Verläufe der Ambivalenz vor, wobei alle bis auf den ersten zu einem pathologischen Ergebnis führen:
1. Bei einer liebevollen Bezugsperson erfährt der Säugling partielle Triebbefriedigung und partielle Versagung und entwickelt dadurch allmählich eine gewisse Fähigkeit zur Verdrängung. Das Kind kann die Versagung aufgrund seiner Liebe zur Bezugsperson tolerieren; die partielle Verdrängung läßt anschließend Raum für die Ersatzbefriedigung des Triebes.
2. Das Kind erfährt gleich zu Beginn eine vollständige (und nicht nur allmähliche) Triebfrustration, z.B. durch harte Entwöhnung oder totale Einschränkung der Masturbation. Dies führt zu einer totalen Verdrängung, wobei die Ambivalenz dem Haß Vorrang gibt. Die Fähigkeit zur Liebe ist stark beeinträchtigt und es entsteht ein zwanghafter Charakter.
3. Im frühesten Stadium besteht eine völlige Abwesenheit von Triebfrustration. Das Kind wächst z.B. ohne Aufsicht und mit uneingeschränkter Triebbetätigung auf, nur um später im Leben in einen schweren Konflikt mit der Umwelt zu geraten. Vor einem solchen Hintergrund entstehen die kriminellen Typen.
4. Einer ausgiebigen frühen, uneingeschränkten Triebbefriedigung steht eine plötzliche, verspätete Triebfrustration brutaler, traumatischer Natur gegenüber. Daraus entsteht der Triebhafte, der in der Regel eine Vorgeschichte von unbeständiger Erziehung besitzt und früh der Sexualität von Erwachsenen ausgesetzt ist.
Beim Triebhaften wird die Sexualität in einem abnorm frühen Stadium stimuliert und ausgelebt. Dies ist nicht zu verwechseln mit dem Selbstregulationsansatz, der den Ausdruck der kindlichen Sexualität auf einem altersgemäßen (und energetisch angemessenen) Niveau zuläßt. Aus den Fallgeschichten wird ersichtlich, daß Reichs triebhafte Patienten ein pornographisches sexuelles Umfeld erlebten, in dem die Betreuer oder Außenstehende Überstimulation offerierten und sexuellen Mißbrauch, einschließlich Inzest, ausübten. Sie waren folglich sexuell sehr überladen und überstimuliert. Von gesunder Genitalität konnte hier aber keine Rede sein, sondern eher von einer Eruption prägenitaler Triebe und polymorph-perverser Neigungen..
Energetisch gesehen kann eine solche Triebhaftigkeit, wenn ihr freier Lauf gewährt wurde, nicht mehr vollständig eingedämmt werden. Schwere Defekte in der Ich-Entwicklung sind die Folge. Und wir wissen aus Reichs späteren Arbeiten, daß die ungezügelte Entladung sekundärer Triebe ökonomisch gesehen mehr Spannung erzeugt als sie löst. Daher das unerträgliche innere Bombardement und das unaufhörliche Ausagieren. Wie Reich später feststellte, stellt die amorphe Charakterstruktur des Triebhaften das genaue Gegenteil von Panzerung dar. Die Triebe, insbesondere die sadistischen, werden nicht durch Reaktionsbildung gehalten, sondern als Abwehr gegen die Triebe selbst und die imaginäre Gefahr, die von den Trieben ausgeht, genutzt.
Der Triebhafte ist durch Extreme und Exzesse gekennzeichnet. Die Symptome sind grotesk, wobei im Verhalten unverhüllte, primitive Triebe zum Ausdruck kommen. Ein solches Verhalten wird von dem Patienten nicht als Krankheit angesehen, außer in seltenen Momenten der Einsicht. Er ist oft sehr lebhaft und bizarr in seiner Art, sich mit der Außenwelt auseinanderzusetzen. Unverhohlene Perversionen, insbesondere sadomasochistische, sind häufig. Der Inzestwunsch ist meist bewußt.
Ein hoher Grad an Ambivalenz ist nach Reich der Regelfall und weist folgende Merkmale auf: stetiger Haß auf und Angst vor den Bezugspersonen; uneingeschränkte Triebhaftigkeit, gelegentlich verstärkt durch Unnachgiebigkeit; ungestillte Sehnsucht nach Liebe, dem Haß in gleicher Intensität entgegensteht; eine ausgeprägte Liebesunfähigkeit. Im Gegensatz zu Zwangshaften verlagern diese Patienten ihre Ambivalenz nicht auf Ersatzobjekte, sondern behalten das ursprüngliche Objekt im vollen Bewußtsein.
Um den Triebhaften besser begreifen zu können, hat Reich das Über-Ich eingehend studiert. Im analytischen Sinne ist das Über-Ich die Einverleibung der moralischen Vorschriften (normalerweise der Verbote) der Eltern. Seine Hauptfunktionen haben mit der Billigung oder Mißbilligung von Handlungen auf der Grundlage der eigenen Vorstellung von richtig oder falsch, mit Selbstkritik, Selbstbestrafung, Sühne und Reue sowie Selbstbestätigung für gutes Verhalten zu tun (3). (Die populäre Vorstellung von der Stimme des Gewissens ist eine stark vereinfachte Version davon.) Es entwickelt sich durch einen Prozeß der Identifikation, der seine Vorläufer in der frühesten Phase der Bildung von Objektbeziehungen hat. In diesem Stadium wird der Prozeß als Inkorporation bezeichnet und das Modell ist eines der oralen Aufnahme. Dies muß sich im Rahmen einer guten Bemutterung entfalten, wenn sich das Individuum auf gesunde Weise entwickeln soll. Reich war der Meinung, daß diese frühesten Identifikationen von wesentlicher Bedeutung dafür sind, wie das Kind den Ödipuskonflikt und spätere Wechselfälle des Lebens verarbeitet.
Die Über-Ich-Bildung steht in einer engen Beziehung zur Ambivalenz. Es sei daran erinnert, daß jede Frustration eines libidinösen Triebes eine Aufspaltung des Triebes in die gegensätzlichen Komponenten der Ambivalenz bewirkt. Je härter die Umstände der Frustration, desto größer die Ambivalenz, der Haß und die Schuldgefühle und desto strafender das Über-Ich. Zu der Zeit, als Reich die Monographie schrieb (1925), wurde die Über-Ich-Bildung als normaler und notwendiger Teil der psychischen Entwicklung angesehen – und als Bollwerk gegen die ungezügelte Entladung von Triebregungen (die Vorstellung vom Kind als wilder Bestie). Nur ein Über-Ich, das zu strafend ist, wurde als pathologisch angesehen. Obwohl die Über-Ich-Bildung ihre Wurzeln in den frühesten Stadien der Objektbesetzung und der Triebverleugnung hat, beginnt sie tatsächlich etwa im Alter von 4 Jahren und ist im Alter von 9 oder 10 Jahren verinnerlicht. Sie wird hauptsächlich als Abwehr gegen den Inzestwunsch des Ödipuskomplexes hervorgerufen und basiert immer auf sekundären (sadistischen) Trieben. Sie funktioniert weitgehend auf einer unbewußten Ebene (im Gegensatz zum „Gewissen“, welches im Bewußtsein ansässig ist).
Reich fand später heraus, daß die Über-Ich-Bildung funktionell identisch mit der Panzerung war – die elterlichen Einstellungen werden also nicht nur psychisch, sondern auch somatisch inkorporiert. Gewissermaßen „kleiden“ wir uns mit unseren Eltern – insbesondere mit ihren negativen Aspekten. Obwohl man sich im Prozeß der Über-Ich-Bildung mit beiden Elternteilen identifiziert, ist die Hauptidentifikation gewöhnlich mit dem Aggressor (d.h. dem strengeren, restriktiveren Elternteil). Die Identifikation mit den positiven Aspekten der Elternfiguren erfolgt natürlich ebenfalls, führt jedoch zu keiner Panzerung.
Beim Triebhaften ist die Über-Ich-Entwicklung deutlich defekt – im Gegensatz zu der des Neurotikers, die gut ausgearbeitet ist. Energetisch gesehen geht dies auf Reichs Beobachtung zurück, daß ein einmal vollentwickelter Trieb nicht mehr vollständig unterdrückt werden kann. Außerdem neigt das unwirksame Über-Ich dazu, die widersprüchlichen, inkonsistenten Aspekte der Erzieher anzunehmen. Reich postulierte, daß die Triebhaften unter dem Druck ihres unwiderstehlichen Drangs nach Triebbefriedigung „das ganze Über-Ich isolieren“ können, das dadurch seine abschreckende Wirkung verliert. Schuldgefühle sind bei diesem Charaktertypus immer vorhanden, wie bei allen ambivalenten Typen, aber sie werden auf unbedeutende Sachverhalte verlagert, anstatt an das entsprechende Objekt gebunden zu sein.
Ein weiteres Kennzeichen des Triebhaften ist die psychosexuelle Verwirrung. Auch der Neurotiker leidet darunter – jedoch in geringerem Maße, da alle Charaktertypen außer dem Hysteriker und dem genitalen Charakter die stärkere Identifikation mit dem Elternteil des anderen Geschlechts haben. In der Monographie von 1925 vertrat Reich die Ansicht, daß der Triebhafte nicht nach einem libidinösen Fixierungspunkt klassifiziert werden könne, analog etwa zur Fixierung des Zwanghaften in der analen Phase. Vielmehr sah er ihn als eine chaotische Melange aller prägenitalen Impulse, „wie ein Elefant im Porzellanladen der libidinösen Entwicklung“. In einer neueren Studie über Charaktertypen von Dr. Elsworth Baker wird der Psychopath als ein sehr schlecht integrierter Phalliker gesehen. Wie dem auch sei, es besteht kein Zweifel, daß dieser Typus viele prägenitale Züge, eine schlechte Ichfestigkeit und ein hohes Maß an Narzißmus aufweist. Die psychosexuelle Verwirrung ist also eine logische Folge der sehr unreifen Ich-Struktur. Offene Homosexualität ist bei diesem Typus keine Seltenheit.
Der Ghetto-Triebhafte
Obwohl Reichs Fälle extrem und grotesk sind, hilft uns seine Formulierung des Triebhaften, die strukturellen Veränderungen zu verstehen, die sich in unseren jungen Menschen von heute abspielen. Wie obenerwähnt, glaube ich, daß der Trend zur Psychopathie weitgehend auf die urbane Studentenschaft und das Ghetto beschränkt ist. Es ist hauptsächlich die erstere Gruppe, die ihre ätiologischen Wurzeln in der fehlgeleiteten sexuellen Revolution hat. Die letztere (Ghetto-) Gruppe ist entwicklungsgeschichtlich an die sozioökonomischen Bedingungen gebunden (wie auch Reichs Triebhaften), plus einige ethnische Faktoren, die einzigartig für ihre zeitgenössische Kultur sind. Die folgende Beschreibung ist größtenteils der Studie von Minuchin(22) (4) und meinen eigenen Beobachtungen in einer psychiatrischen Klinik im Stadtteil Brownsville(23) in Brooklyn, New York, entnommen, an der ich einige Jahre lang tätig war..
Wie wird ein Ghettokind zu einem triebhaften Kind? Ein wesentlicher Faktor ist ein extrem instabiles häusliches Umfeld. Das Kind lebt in einem „Kaleidoskop von sich bewegenden und wechselnden Reizen“. Es darf nicht zweimal im selben Bett schlafen. Die Mahlzeiten sind selten zu einer bestimmten Stunde und können an einem Tag ein Festmahl und am nächsten ein Hungermahl sein. Es gibt mehrere, unberechenbare Bezugspersonen, die ihm ebenfalls ein Fest- oder Hungermahl an Anregungen verabreichen – an einem Tag wird es mit Aufmerksamkeit überschüttet, am folgendem ist es völlig vernachlässigt und unbeaufsichtigt. Ein ständiger Strom von Geliebten der Mutter läßt kaum ein geeignetes Modell zur Identifikation übrig. Die Objektbeständigkeit fehlt folglich fast völlig. In einem solchen wechselnden Bezugsrahmen entwickelt das Kind nie die Fähigkeit zu sinnvollen Objektbeziehungen. Wir sehen diesen Mangel ständig bei den Triebhaften.
Ein weiteres hervorstechendes Merkmal der Kindererziehung ist die Inkonsistenz der Eltern. Die Elternfiguren fungieren als eine Art „Verkehrspolizei“ und ihre Anweisungen an das Kind richten sich nach ihrer momentanen Stimmung. Sind sie gutgelaunt, lautet das Signal „Los!“, bei schlechter Laune „Stop!“ – Reaktionen, die in keinem Bezug zum Thema oder zu dem stehen, was richtig oder falsch ist. Es bedeutet auch, daß die dirigierende Macht für das Kind immer extern ist; er hat nie eine Chance, seine Triebkontrolle zu verinnerlichen und zu meistern. Die Triebentladung gestaltet sich motorisch und umfassend und geht Hand in Hand mit einer schlechten Aufmerksamkeitsspanne. In der Schule können diese Kinder nicht aufmerksam bleiben oder zwei Minuten lang still auf ihrem Stuhl sitzen. Die Ich-Struktur ist zu primitiv, um Introspektion, Selbstkritik oder die Fähigkeit zur Empathie mit anderen Menschen zu ermöglichen. Sie sind sehr narzißtisch und leben hauptsächlich in ihren sekundären Trieben.
Auch das Selbstwertgefühl ist minimal, da ihre Individualität nie gewürdigt wurde. Ein Kind wird mit dem Namen eines anderen Kindes gerufen oder alle Kinder werden von der Mutter mit einem abwertenden Begriff in einen Topf geworfen. Eine Privatsphäre im Schlafzimmer und im Bad ist nicht vorhanden. Kulturelle Muster begünstigen eine strafende Frauenherrschaft, wo die Mutterfigur die Hauptverantwortung für das Überleben der Familie trägt. Der Mann, der von einer strengen Matriarchin, die seiner Frau gleicht, aufgezogen wurde, rächt sich üblicherweise durch böswilliges Verlassen. Die männlichen Kinder erfahren in der Regel eine strenge und kastrierende Erziehung, die wenig dazu beiträgt, sie für die Vaterschaft, die Verantwortung als Erwachsener oder das Selbstwertgefühl als Mann zu qualifizieren. Die Mädchen neigen dazu, der Härte der Mutter nachzueifern und können Hausdrachen für ihre eigenen Partner werden.
Auch der Gebrauch der Sprache spiegelt diese primitive Herangehensweise an die Kindererziehung wider. Die Sprache wird hauptsächlich verwendet, um Beziehungen zwischen einer Person und einer anderen zu signalisieren und nicht um Informationen zu übermitteln. Echte Konversation ist in solchen Familien selten. Vielmehr hört man mehrere Monologe, die in ihrer Lautstärke eskalieren – ohne die Erwartung, daß man Gehör findet oder ein Feedback zu seinen verbalen Ergüssen erfährt. Ein Thema wird weder entwickelt noch zu Ende geführt, noch ist es üblich, Informationen zu überprüfen und einzuordnen. Daher ist ein Gefühl für Vergangenheit und Zukunft schlecht entwickelt: alles ist gegenwartsorientiert, wobei die sofortige Befriedigung hervorgehoben wird. Es gibt wenig Sinn für einen Aufschub für ein langfristiges, besseres Ziel.
Der Sprachcode selbst hat ein sehr niedriges Niveau der Begriffsbildung und ist meist auf Machtfragen zentriert, wobei sich das lauteste und zäheste Kind als der King etabliert. Kommunikation ist oft nur eine Aneinanderreihung von eskalierten Drohungen und Gegendrohungen – „Ich werde dir die Nase brechen. Ich breche dir dein Genick.“ – mit denen sie ihren Platz in der Machthierarchie festlegen. Kommunikation dient also dazu, den Status von Beziehungen zu definieren, nicht Informationen zu übermitteln. Auch die Entladung von Affekten ist eine Sache der Extreme: Sie reagieren auf einer Alles-oder-Nichts-Basis, ohne Nuancen oder Abstufungen von Gefühlen, ohne Feingefühl, nur „küß mich oder töte mich“. Die Eltern neigen dazu, dies mit einer vollständigen Polarisierung des Affekts zu modellieren – totale Zuwendung oder totale Abwendung. Um irgendeinen Affekt zu vermitteln, gehen sie bis zum Äußersten, ohne Modulation, und es hängt alles von ihrer Stimmung ab und nicht von der jeweiligen Sachlage.
Zusätzlich zu den obigen Beobachtungen, die hauptsächlich von Minuchin stammen, möchte ich betonen, daß diese Kinder in einem sehr frühen Alter sexuellen Aktivitäten von Erwachsenen und auch einer sadistischen Behandlung durch Erwachsene und Gleichaltrige ausgesetzt sind. Sie leben in einer Welt der Gewalt, der sekundären Triebe, der hypersexuellen Stimulation und der wechselnden Orientierungsrahmen. Das Ergebnis ist ein explosives, primitives, triebgesteuertes Individuum, das nicht nur an schweren Defekten des Ichs leidet, sondern dem auch die leistungsfähigen Werkzeuge der Kommunikation und Begriffsbildung fehlen. All dies findet in einer Umgebung statt, in der die Menschen auf verheerende Weise zusammengedrängt sind (infolgedessen überforderte Mütter, die sich um zu viele Kinder kümmern müssen), Armut, Alkoholismus und Drogenabhängigkeit herrschen.
Der Mittelklasse-Übergangstyp: Genese und soziales Umfeld
Unter Berücksichtigung der obigen Formulierungen des Ghetto-Triebhaften sind wir nun in der Lage, einige Übergangstypen unter unseren zeitgenössischen städtischen Hochschülern näher zu betrachten. Wenden wir uns zunächst der Genese zu.
Diese Jugendlichen kommen oft von Eltern, die in der Wirtschaftskrise aufgewachsen sind und in einem Klima der mehr oder weniger sexuellen Unterdrückung erzogen wurden. Solche Eltern begeistern sich oft für extreme sexuelle Freizügigkeit. Sie sind stark hin- und hergerissen zwischen ihren intellektuellen Überzeugungen sexuell bejahender Natur und den automatisch sexualnegativen Einstellungen, die zur Struktur und verinnerlicht wurden. Intensive Schuldgefühle und Ressentiments (normalerweise verdeckt) sind gegen ihre eigenen Eltern gerichtet. Je neurotischer sie sind, desto kontaktloser sind sie. Bei dem Versuch, „moderne“ Ideen auf ihre Kindererziehung anzuwenden, tun sie Dinge rein mechanisch, ohne den richtigen Gefühlston oder das „Bauchgefühl“, das ein offenerer Mensch hätte. Eine Frau aus meinem Bekanntenkreis wußte zum Beispiel aus der Lektüre, daß sie sich nicht in die Selbstbefriedigung ihres 4-jährigen Sohnes einmischen sollte. Eines Tages hatte das Kind eine Erektion und zeigte sie stolz seiner Mutter, um zu verkünden: „Schau, Mami, mein Pipimann ist so groß!“ Die Frau, die klug genug war, ihren unwillkürlichen Widerstand verstummen zu lassen, erstarrte dennoch. Das Kind kontrahierte sofort. Hätte sie warmherzig gesagt: „Oh, ist das nicht schön, Schatz!“, und wäre dann ihrer Arbeit weiter nachgegangen, hätte sich das Kind wohlgefühlt. Das andere Extrem und mit noch größerer Kontaktlosigkeit ist die Mutter, die der Bitte ihres kleinen Sohnes nachkam, ihn zu masturbieren, als er sich ihr stolz zeigte. Nach den Prinzipien der Selbstregulierung hätte diese Mutter auf eine freundliche, entspannte Art sagen können: „Das ist sehr nett, Schatz, aber Mami ist zu groß, um so mit dir zu spielen. Kinder und Erwachsene spielen nicht so, aber es ist sehr schön und Mami hat dich sehr lieb.“
Es sind normalerweise die Exzesse wie die des zweiten Beispiels, die den größten Schaden anrichten und zu einer triebhaften Struktur führen. Die hypersexuelle Stimulation spielt hier eine große Rolle. Im Laufe meiner Praxis habe ich Anamnesen von schockierend kontaktlosen Kindererziehungspraktiken erhalten, die im Namen der Selbstregulierung durchgeführt wurden. Dazu gehören die folgenden: Kinder, die ins elterliche Bett mitgenommen wurden, während die Eltern Geschlechtsverkehr hatten; eine Mutter, die ihre Kinder schon sehr früh masturbierte und sie dann in ein Sexualleben drängte, anstatt der Natur ihren Lauf zu lassen; ein Vater, hochgebildet und intelligent, der trotz wiederholter Ermahnungen eines Arztes, es zu unterlassen, sexuell mit seiner vorpubertären Tochter spielte. Dies sind natürlich Extreme.
Ein eher kontroverses Gebiet ist die Frage der Nacktheit von Erwachsenen. Meine persönliche Meinung, basierend auf den Beschwerden und Fantasien von Kinderpatienten im Laufe der Jahre, ist, daß auch dies eine Erregung hervorruft, die zu viel für die Energiekapazität des Kindes ist. Ich hatte erhebliche Schwierigkeiten mit verführerischen, hysterischen Müttern mit unbewußten exhibitionistischen Tendenzen, die darauf beharren, sich nackt oder leicht bekleidet vor ihren Söhnen zu zeigen. Sie beteuern, daß das alles „natürlich“ sei und haben keine Einsicht in ihre eigene unbewußte Motivation oder die daraus resultierenden neurotischen Symptome der Kinder. Ich weiß nicht, wie schädlich die Nacktheit von Erwachsenen in einer vollkommen gesunden Gesellschaft von ungepanzerten Eltern und Kindern wäre; vielleicht wäre sie bei einer geordneten Libidoökonomie ganz natürlich und harmlos und diese Verhaltensweisen wären wirklich unbedenklich. Es mag von Interesse sein, daß die Trobriander (die nach Reichs Ansicht eine der sexuellen Gesundheit nahestehende Gesellschaft verkörperten) Nacktheit nicht ermutigten, es sei denn, es gibt einen funktionellen Grund dafür, wie etwa das Baden (5). Auch wurde bei den Trobriand-Insulanern die Privatsphäre im Zusammenhang mit Körperpflege peinlich genau eingehalten. Ich glaube, dies ist ein weiterer Bereich, in dem unsere fehlgeleiteten Modernisten schmerzlich sündigen.
Die oben genannten neurotischen Praktiken stehen in scharfem Kontrast zu den Grundprinzipien der Selbstregulierung, deren Eckpfeiler das Recht von Kindern und Jugendlichen auf ein gesundes, altersgerechtes Sexualleben ist. Unter solchen Bedingungen unterdrückt man den Sexualtrieb bei Kindern nicht: Stauung und Panzerung entstehen nicht; der ödipale Wunsch bleibt uninteressant und ohne Verlangen; die Energie kann frei über bestmögliche entwicklungsbedingte Wege in Richtung von Reifung des Ichs, Kreativität und Fähigkeit zu guten Objektbeziehungen fließen.
In einer gepanzerten Gesellschaft ist die Situation selbst bei einfühlsamen Eltern nicht so einfach. Gepanzerte Eltern neigen dazu, gepanzerte Kinder zu produzieren. Dies ist wahrscheinlich auf die unbewußten Einstellungen der Eltern zurückzuführen, über die sie keine Kontrolle haben und die sich wiederum nicht nur in ihrem Verhalten, sondern auch in ihren Energiefeldern widerspiegeln. Letztere werden in den Bereichen der Panzerung unweigerlich geschwächt und geschrumpft sein. Das Feld des Kindes, das über einen langen Zeitraum mit den elterlichen Feldern in Resonanz steht, spürt zweifellos die Bereiche der Kontraktion und kann sich in den korrespondierenden Bereichen seines eigenen Feldes zusammenziehen. Ich habe dies sogar bei kleinen Babys mit sehr wohlmeinenden Eltern gesehen. Dennoch sagt mir mein Gefühl, daß die Erziehung der Eltern zu einer gesunden Kindererziehung dazu beitragen kann, eine Generation hervorzubringen, die weniger gepanzert ist als ihre Vorfahren, und so weiter, bis eine relativ gesunde Gesellschaft entsteht, die auf sexualökonomischen Prinzipien beruht.
Übernachgiebigkeit in nicht-sexuellen Angelegenheiten ist ein weiterer Fallstrick der modernen Kindererziehung. Für die emotionale Gesundheit braucht das Kind nicht sofortige Befriedigung jeder Laune und jedes Wunsches. Viele Eltern, die zu echter Warmherzigkeit nicht fähig sind, überhäufen ihre Kinder mit materiellen Gütern als Ersatz für Kontakt. Sie versäumen es, dem Kind beizubringen, Rücksicht auf die Rechte von anderen zu nehmen. Sie verzichten auch darauf, das Kind anzuleiten oder ihm ein Gefühl für Verantwortung zu vermitteln. Das Kind wächst zu einem egozentrischen kleinen Monster heran, das denkt, die Welt schulde ihm eine Versorgung, für die es sich nicht im Geringsten anstrengen muß. Es ist übermäßig verwöhnt worden, hat aber gleichzeitig nie einen wirklichen, bedeutungsvollen Kontakt erlebt, ist also im Kern liebeshungrig, angespannt und unglücklich mit seinem Füllhorn(24), ohne überhaupt zu wissen warum. Das ist weit entfernt von der von Reich empfohlenen Selbstregulierung, bei der zwar die Grundbedürfnisse befriedigt, aber auch Grenzen gesetzt werden. Hier herrscht genau das Gegenteil vor.
Der Aufstieg der Pornographie ist ein weiterer starker Indikator für eine gescheiterte sexuelle Revolution und hat einen tiefgreifenden Einfluß auf das gesellschaftliche Leben, trotz der Beteuerungen ihrer Apologeten, daß sie harmlos sei. Kinder werden durch Comics, Filme und die kontaktlose Attitüde ihrer Eltern frühzeitig sexueller Überstimulation ausgesetzt. Aber ist das Genitalität, die sich herausbildet? Ganz im Gegenteil. Pornographie stimuliert immer die prägenitalen Triebe und erzeugt daher aus sexualökonomischer Sicht mehr Spannung als sie abbaut. In dieser Situation gibt es immer einen energetischen Restbetrag zwischen dem Aufbau und der Entladung von Spannung. Dies führt dazu, daß man sich ständig mit sexuellen Sinneseindrücken beschäftigt und ihnen nachjagt, aber keine wirkliche Befriedigung findet. Es ist analog einem Menschen, der ständig hungrig ist und immer ans Essen denkt.
Hinzu kommt eine abgrundtiefe Unkenntnis der Sexualökonomie und der Rolle des genitalen Primats seitens sogenannter Experten, die mit ihren Bestsellern jede Menge Fehlinformationen über sexuelle Fragen verbreiten. Noch schlimmer ist die massive Förderung von Perversionen und prägenitalen Sexualpraktiken. Diese werden fälschlicherweise als „gesund“ und „normal“ hingestellt – als ein Weg, dem Sexualakt etwas Würze zu verleihen. Eines der groteskeren Beispiele ist die Kolumne Ratgeber-für-Liebesfragen des Penthouse Magazine, die von einer bekannten Bordellwirtin(25) verfaßt wird. Hier kann der fragende Leser explizite Anweisungen (in einfachem Angelsächsisch) erhalten, wie man homosexuelle Handlungen, ménage à trois, Gruppensex, Analverkehr, Spanking, das Fesseln des Sexualpartners und die erotische Verwendung von Einläufen, Vibratoren und anderen Utensilien durchführt. Die implizite und explizite Botschaft lautet, daß alles möglich, alles akzeptabel, sexuell gesund und „normal“ sei. Eine meiner Patientinnen berichtete kürzlich, daß ein ehemaliger Liebhaber eines Abends mit einer Vielzahl von Geräten auftauchte, darunter Reitpeitschen und Lederriemen, die er in einem Fachgeschäft für solche Artikel gekauft hatte und die dafür bestimmt waren, den Geschlechtsakt auszuweiten. Sie zeigte ihm die Tür.
Eng verbunden mit dieser Untergrabung des genitalen Primats ist der Trend zum „Unisex“ in der Männer- und Frauenmode. Die Verwischung der sexuellen Grenzen und die psychosexuelle Verwirrung, die mit der Prägenitalität einhergeht, zeigt sich deutlich im Aufkommen vieler androgyner Gesangsidole, die heute en vogue sind – mit ihren engen Hosen, hohen Absätzen, glitzernden Westen und wallenden Locken. Teenager finden sie leicht anbetungswürdig, weil eine Unisex-Fassade für sie viel weniger sexuell bedrohlich ist als ein Symbol offener Männlichkeit.
Ein weiterer Aspekt ist der Umsturz des vaginalen Orgasmus durch Masters und Johnson (6) zugunsten der Theorie, daß „ein Orgasmus ein Orgasmus ist“, egal was ihn auslöst. Dieser Ansatz negiert vollständig den sexualökonomischen Wert des genitalen Primats und die klinische Beobachtung, daß nur der umfassende genitale Orgasmus die Energieökonomie regulieren und die Freiheit von Panzerung und Neurose aufrechterhalten kann. Anstelle des „genitalen Orgasmus“ ist der „multiple Orgasmus“ zu einem begehrten Aushängeschild sexueller Leistungsfähigkeit geworden. Sexualökonomen hingegen wissen sehr wohl, daß multiple Orgasmen lediglich das Unvermögen widerspiegeln, die vollständige orgastische Konvulsion zu erreichen, die mit der orgastischen Potenz einhergeht.
Ein weiterer damit zusammenhängender Trend ist die sich ändernde Einstellung von Klinikern zur Homosexualität. Es gibt heute viele Psychiater, die den Standpunkt vertreten, daß ein Homosexueller „völlig normal“ sei – was wiederum eine abgrundtiefe Unfähigkeit bekundet, prägenitale von genitaler Sexualität zu unterscheiden. Eine so schwerwiegende Abweichung nicht als pathologisch zu betrachten, ist eine reine Ausflucht und erweist dem Homosexuellen selbst einen großen Bärendienst. Er braucht professionelle Hilfe und Verständnis, keine Apologeten.
Vielleicht am kontaktlosesten von allem ist der massive Zusammenbruch der Privatsphäre in persönlichen Angelegenheiten, die alle gesunden Menschen zu bewahren trachten. Ich beziehe mich nicht auf falsche Sittsamkeit, sondern auf den Sinn für Zartheit beim Liebesspiel, die bei denen zu finden ist, die wirklich zur Liebe fähig sind. Sie zeigt sich vielleicht beispielhaft in der Einstellung der Trobriander zum Geschlechtsverkehr zwischen einem Mann und seiner Frau. Die größte Beleidigung, die man dem trobriandischen Mann machen kann, ist, ihm zu sagen, er solle mit seiner Gattin „zusammensein“, was schließlich eine ausgemachte Sache zwischen den Ehepartnern ist. Dies liegt daran, daß der Trobriander das Eindringen von außen in etwas für ihn sehr Kostbares und Liebes ablehnt und es als Verletzung der Privatsphäre betrachtet. Dies steht in scharfem Kontrast zu der Grobheit, dem Exhibitionismus und dem Voyeurismus von Gruppensex und Frauentauschpraktiken, bei denen die sexuelle Umarmung zu einer beiläufigen Geste geworden ist, ohne jedes tiefe Gefühl oder Sensibilität. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Beobachtung Reichs, daß orgastisch potente Individuen während des Sexualaktes keine Scherze machen oder gegenüber dem anderen vulgäre Ausdrücke benutzen.
Alle oben diskutierten Mißstände stellen keine sexuelle Freiheit mit Verantwortung dar, sondern Zügellosigkeit. Die Unterdrückung wird aufgehoben – nicht was den Ausdruck von Genitalität betrifft –, sondern hinsichtlich der Explosion aller möglichen prägenitalen Manifestationen, den Sadismus, die sekundären Triebe, die Perversion, die Inversion(26) usw. Die gelockerte und defekte Ich-Struktur, die ein solches soziales Umfeld fördert, erweist unseren beeinflußbaren, heranwachsenden Generationen einen großen Bärendienst. Sie zerstört ihre Fähigkeit zu wahrem sexuellen Glück und erzeugt einen Zustand unerträglicher Spannung.
Der weitverbreitete Drogenmißbrauch ist ein weiterer alarmierender Auswuchs der kontaktlosen Permissivität, die einen Freibrief darstellt. Der ausgesprochen Süchtige entspricht gemeinhin einer voll ausgeprägten Charakterstörung mit vielen der Merkmale, die Reich in seiner Studie über den Triebhaften präsentiert hat. Er zeigt eine „außerordentliche Regression“, wie Fenichel (7) es ausdrückt, und die Libido bleibt eine „sehr diffuse Mischung aus prägenitalen Spannungen“. Genitaler Sex ist für ihn uninteressant, aber die Droge erfüllt ein tiefes und primitives Verlangen, das bei den meisten dieser Menschen dringender empfunden wird als sexuelles Verlangen. Er ist hauptsächlich oral und hauterotisch. Daher wird die Droge als Nahrung und Wärme empfunden und bietet auch eine außergewöhnliche Erhöhung des Selbstwertgefühls, die mit dem Hochgefühl des Manisch-Depressiven engverwandt ist. Die Objektbeziehungen sind dürftig und die Objekte werden als Versorgungslieferanten gesehen. Es besteht eine außergewöhnliche Intoleranz gegenüber Spannungen.
Neben dem von harten Drogen Abhängigen gibt es viele, die die sogenannten „weichen Drogen“ konsumieren. Unter den jungen Menschen in den Städten zeigen die Zahlen eine erschütternde Zunahme an Konsumenten in einem relativ kurzen Zeitraum. Die gesellschaftliche Einstellung ist besonders freizügig, was den Konsum von Marihuana angeht und es gibt eine „Hasch-Lobby“, die sich für seine Legalisierung einsetzt. Selbst wenn es keine anderen Einwände dagegen gäbe, sollte die psychologische Wirkung auf den jungen Teenager nachdenklich machen. Damit der Reifungsprozeß stattfinden kann, müssen diese Jugendlichen Bewältigungsmechanismen und Problemlösungstechniken für den Umgang mit den harten Realitäten des Lebens entwickeln. Marihuana, indem es die Angst auflöst, verhindert die Ausarbeitung solcher Lebenskompetenzen zu einem äußerst kritischen Zeitpunkt ihrer Entwicklung, wenn sie diese Fähigkeiten am notwendigsten entwickeln müssen. „Aussteigen“, statt etwas meistern und ein Ziel verfolgen, wird zum Lebenswandel, und sie bleiben infantil, ausgerichtet auf die angenehme Befriedigung des Augenblicks, unberührt von jeglichem Verantwortungsbewußtsein für ihr Schicksal. Diejenigen mit einer ungeordneten und defekten Ich-Struktur sind natürlich am meisten geneigt, diesen Ausweg zu wählen, da sie von einer inneren Spannung bestürmt werden, die sie nicht bewältigen können. Die Verdrängungsmechanismen sind defekt und die Struktur zu unreif für die befriedigende Auflösung der Spannung.
Auch in energetischer Hinsicht sind die Wirkungen aller Psychedelika – einschließlich Hasch – sehr schädlich. Ich habe dies an anderer Stelle ausführlich besprochen (8), möchte hier aber nur darauf hinweisen, daß die Einnahme jeglicher Psychedelika eine diffuse Weitung des Orgon-Energiefeldes verursacht, die an die des Schizophrenen erinnert. Der Begriff „abgedriftet“ ist hier tatsächlich zutreffend. Das Endresultat ist ein geselliger „Pseudokontakt“, für den energetisch sensiblen Beobachter ist die Person jedoch einfach nicht im Raum. Der Süchtige wird zu einer Art losgelöstem Beobachter, abgeschnitten von jeglicher Resonanz mit dem Feld der anderen Person. (Damit irgendeine Art von Kontakt zwischen zwei oder mehreren Personen stattfinden kann, müssen ihre Energiefelder interagieren und in Resonanz treten.) Da Psychedelika eine kumulative Wirkung haben (die aktive Komponente in Marihuana bleibt etwa acht Tage im System), hält das Individuum den Zustand der Kontaktlosigkeit viel länger aufrecht als bei natürlich induzierten veränderten Bewußtseinszuständen(27) und wahrscheinlich außerdem mit chemischer Beeinträchtigung des Gehirns und anderer Gewebe. (Dies wird noch untersucht.)
Es gibt viele Drogen-Subkulturen, in denen das „Antörnen“ eine Lebensweise darstellt. Kinder, die von solchen Eltern großgezogen werden, sind ausgehungert nach Kontakt: Die spärlichen elterlichen Energiefelder bieten wenig, mit dem sie in Resonanz treten können, und die Nachkommen verwandeln sich in kleine, zurückgezogene Automaten. Meine Kinderpatienten aus der Mittelschicht, deren Eltern gelegentlich kiffen, haben Beklemmung und Trübsal über die Atmosphäre, die in solchen Zeiten zu Hause herrschte, zum Ausdruck gebracht: Sie hatten ein Gefühl von vager, undefinierbarer Angst, die sie nicht verstehen oder bewältigen konnten, – als ob sie gegen Phantome kämpften. Kinder haben gemeinhin viel schärfe Sinne, was das Spüren emotionaler Schwingungen in der Atmosphäre und das Sehen von Energiefeldern betrifft, bis die Erwachsenenwelt sie davon abhält.
Schließlich gibt es einen politischen Aspekt bezüglich der Folgen der kontaktlosen Kindererziehung. Aufgrund des intensiven inneren Unbehagens haßt die Jungend ihre Erzieher, die in der Tat eine große Bürde der Verantwortung für den inneren Mahlstrom tragen. Der Haß wird oft als Haß auf das Vaterland projiziert, und das Kind identifiziert sich in seinem Leiden mit den Benachteiligten.
Darin liegt die weitreichende Gefahr. Das Kind ist mit der Illusion von Freiheit aufgewachsen, leidet aber unter unerträglichen Spannungen, die es nicht begreifen kann. Es wird daher getrieben, den Aufruhr in sich selbst zu beruhigen, indem es sich an Zielsetzungen orientiert, die jede Regung von außerhalb blockieren. (Das ist der Wesenskern der emotionellen Pest – die Bewegung der Energie auf jeder Ebene zum Stillstand zu bringen – alles in einer monolithischen Gesellschaft einzufrieren, in der sogar die Beweglichkeit der Gedanken tabu ist.) Ein solcher Jugendlicher fällt dem zynischen Totalitaristen zum Opfer, der ihn benutzt, um die Macht zu ergreifen und gleichzeitig soziale Gerechtigkeit und Erleichterung für die Unterdrückten zu predigen. Aufgrund seiner gestörten Energieökonomie und seiner schlechten Ich-Integration ist dieser Jugendliche nicht in der Lage, Spannungen effektiv zu entladen. Diese Fähigkeit kommt erst mit einer gewissen Reifung des Ichs. Um überhaupt innerlich zur Ruhe zu kommen, muß er in erster Linie darauf verzichten, energetisch „das Faß zum Überlaufen zu bringen“. Unbewußt sucht er sich die rigidesten Totalitaristen (z.B. der Vorsitzende Mao, Che Guevara), um ein soziales Milieu herzustellen, in dem die Reglementierung maximal und die Freiheit (Motilität) minimal ist. Gleichzeitig hat er das Bedürfnis derartige Programme mit der Befreiung der Unterdrückten zu rationalisieren (in Wirklichkeit geht es um ihn selbst, das Opfer seiner eigenen gestörten libidinösen Struktur).
Im extremsten Fall gibt er sich ganz seinen sekundären Trieben hin und sucht Entlastung durch soziale Gewalt. Hier ist die innere Spannung maximal und die Explosivität unausweichlich. Die Randalierer auf dem Campus und die Bombenwerfer gehören zu dieser Kategorie.
Zusammengefaßt sehen wir, daß Reichs leuchtender Traum von einer sexuellen Revolution, die die Menschheit von ihrer orgastischen Impotenz befreien würde, nicht eingetreten ist. Die sexuelle Unterdrückung weicht tatsächlich, aber an ihre Stelle trat Zügellosigkeit – nicht Freiheit mit Verantwortung. Das liegt an der Entstellung der Selbstregulation und der sexualökonomischen Prinzipien durch den gepanzerten Menschen. Ich glaube, daß eine solche kontaktlose Kindererziehung, wie sie oben beschrieben wurde, zu einer wachsenden Anzahl desorganisierter und primitiver Ich-Strukturen führen wird, die an Reichs Triebhafte von 1925 erinnern. Die entstellte Freizügigkeit und Toleranz für Pornographie und Drogen kann diesen Prozeß stark beschleunigen. Im Ghetto richten Armut und brutale Sitten ähnlichen Schaden an.
Das Aufkommen von spannungsgetriebenen, leidenden Jugendlichen, Produkte der fehlgeschlagenen sexuellen Revolution, hat schlimme politische Auswirkungen. Sie gehören zu den pestanfälligsten aller Charaktertypen, und ihr inneres Elend, das nur allzu real ist, wird Angriffspunkt restriktiver Ideologien, die den inneren Strudel durch von außen aufgezwungene Kontrollen bezwingen wollen.
Dabei möchte ich hervorheben, daß ich weder für die Rückkehr sexueller Unterdrückung noch für Gleichgültigkeit gegenüber sozialer Ungerechtigkeit eintrete. Ich glaube, jede nachfolgende Generation muß ihre jungen Menschen zu echter sexueller Freiheit erziehen, die auf Verantwortung und Selbstregulierung basiert, wie oben dargelegt. Unser hauptsächliches Aktionsfeld ist nicht politisch, abgesehen davon, daß wir die Flut des Kollektivismus der Linken eindämmen müssen, der heute die größte Bedrohung für die menschliche Freiheit darstellt. Unser Tenor ist vielmehr „radikal“ im Sinne von Reich und zielt durch sexualökonomische Prinzipien auf den eigentlichen Kern des gepanzerten Menschen.
Literatur
- Reich, W.: Die sexuelle Revolution, Frankfurt: Fischer Taschenbuchverlag, 1971
- Reich, W.: Der triebhafte Charakter, In: FRÜHE SCHRIFTEN, Köln : Kiepenheuer & Witsch, 1977
- Brenner, C.: An Elementary Text-book of Psychoanalysis. Garden City, N.Y.: Doubleday Anchor, 1957
- Minuchin, S., et al.: Families of the Slums. New York and London: Basic Books, 1967
- Malinowski, B.: Das Geschlechtsleben der Wilden in Nordwest-Melanesien, Frankfurt a.M.: Syndikat, 1979
- Masters, W.H. and Johnson, V.E.: Die sexuelle Reaktion, Frankfurt am Main: Akademische Verlagsgesellschaft, 1967
- Fenichel, 0.: Psychoanalytische Neurosenlehre. Frankfurt am Main: Ullstein Materialien, 1983
- Koopman, B G.: „Mind-Expanders – Peril or Pastime?“ Journal of Orgonomy, 3:213-25, 1969
Fußnoten
(20) ANMERKUNG DES ÜBERSETZERS: In der Psychoanalyse ist Dekathexis der Rückzug der Besetzung von einer Idee oder einem Triebobjekt.
(21) ANMERKUNG DES ÜBERSETZERS: Wilhelm Reich: The impulsive character and other writings, übersetzt von Barbara G. Koopman. New American Library, New York 1974.
(22) ANMERKUNG DES ÜBERSETZERS: https://de.wikipedia.org/wiki/Salvador_Minuchin
(23) ANMERKUNG DES ÜBERSETZERS: Eines der ärmsten Stadtbezirke von New York.
(24) ANMERKUNG DES ÜBERSETZERS: (Aus der antiken Mythologie stammendes) Sinnbild der Fülle und des Überflusses (in Gestalt eines gewundenen Hornes, aus dem Früchte und Blumen quellen). [Duden]
(25) ANMERKUNG DES ÜBERSETZERS: 1972 erklärte sich Xaviera Hollander, ein berühmtes Callgirl und Bordellbetreiberin, bereit, eine monatliche Kolumne über sexuelle Ratschläge für das Penthouse Magazine zu schreiben: „Call Me Madam: Counsel By Xaviera Hollander“.
(26) ANMERKUNG DES ÜBERSETZERS: Sexuelle Inversion ist ein Begriff, der von Sexualwissenschaftlern verwendet wird, vor allem im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, um sich auf Homosexualität zu beziehen. (Wiki)
(27) Während die meisten Menschen veränderte Bewußtseinszustände tolerieren und sogar davon profitieren können, z.B. bei der Parasympathikotonie,* die mit der Biofeedback-Kontrolle der Alpha-Gehirnwellen einhergeht, ist bei Borderline-Psychotikern selbst hier Vorsicht geboten, da sie die Auflösung ihrer Ich-Grenzen durch solche Techniken nicht aushalten. Um wieviel anfälliger sind sie dann für Psychedelika! [* ANMERKUNG DES ÜBERSETZERS: Parasympathikotonie, Verschiebung des Gleichgewichts im vegetativen Nervensystem zugunsten des Parasympathikus (erhöhter Parasympathikotonus). Da der Vagus den wichtigsten Anteil des Parasympathikus darstellt, wird sie auch als Vagotonie bezeichnet. Kennzeichen sind langsamer Puls, niedriger Blutdruck, gesteigerte Sekretion der Drüsen und erhöhter Tonus der glatten Muskulatur im Magen-Darm-Trakt und in den Bronchien. (spektrum.de)]
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