W W W . O R G O N O M I E . J I M D O S I T E . C O M

 

Artikel von David Holbrook, M.D.

 

 

 

 

Emotionen sprechen lauter als Worte

Eine Einführung in die klinische Theorie der Orgonomie mit einer Diskussion einiger paralleler Funde in der modernen Neurowissenschaft und Psychotherapie

David Holbrook, M.D.

 

Die Orgonomie ist ein Zweig der Wissenschaft, der Emotionen sowie andere Aspekte der Energiebewegung in der Natur untersucht. Der Begriff „Orgonomie“ hat die gleiche Wortwurzel wie „Organismus“ und „organisch“. Orgonomische Phänomene wurden ursprünglich von dem Psychiater und Wissenschaftler Wilhelm Reich entdeckt und beschrieben, der von 1897 bis 1957 lebte. Reich absolvierte seine Ausbildung bei Sigmund Freud und wurde von Dr. Freud als einer seiner brillantesten Schüler betrachtet. Als Psychiater richtete sich Reichs Aufmerksamkeit nicht nur auf die einzelnen psychologischen Symptome, sondern auch auf die umfassenden charakteristischen Funktionsweisen jedes Patienten, die er als dessen „Charakter“ bezeichnete. In seinem Buch Charakteranalyse (1949) stellte er fest, daß sich die Menschen nicht nur durch ihre Worte ausdrücken, sondern auch indirekt durch ihre charakteristischen Einstellungen und Verhaltensweisen sowie durch nonverbale Aspekte des Ausdrucks wie Körpersprache und andere verwandte Phänomene, wie zum Beispiel Tonfall und Gesichtsausdruck. Auf diese Weise stellte er den verbalen Ausdruck, den er „Wortsprache“ nannte, all diesen anderen nonverbalen Aspekten des Ausdrucks gegenüber, die er als "Ausdruckssprache" bezeichnete. Alle Tiere zeigen eine Ausdruckssprache, während die Wortsprache einzigartig für den Menschen ist. Reich entwickelte Wege, um den Patienten auf dessen nonverbale Ausdruckssprache aufmerksam zu machen. Dabei wurde nicht nur auf die Körpersprache hingewiesen, sondern auch auf psychologische Einstellungen, die vom Patienten möglicherweise nicht verbal formuliert wurden, die aber dennoch offensichtlich waren.

Wir alle erhalten täglich diese nicht verbalisierten Einstellungen von jedem, mit dem wir interagieren. Unter normalen Umständen bieten diese Einstellungen und andere Aspekte des nonverbalen Ausdrucks einen Kontext für verbale Kommunikation und ergänzen die verbale Botschaft. Manchmal widerspricht die nonverbale Botschaft der verbalen Nachricht. Zum Beispiel könnte man „Ich liebe dich“ in einem aufrichtigen Ton sagen oder mit einem unaufrichtigen, sarkastischen Ton und Gesichtsausdruck. Gleiche Worte, unterschiedliche Botschaften. In diesem und anderen Beispielen übertrumpft die emotionale Botschaft die verbale. In der Tat wirkt die emotionale Botschaft in gewisser Weise auf einer anderen Ebene als Worte und kann von Person zu Person ohne bewußte Aufmerksamkeit oder bewußte Absicht beider Parteien übertragen werden.

Diese unbewußten Einstellungen oder Ausdrücke oder körperlichen Haltungen können im Laufe der Zeit chronisch geworden sein und die Person kann allmählich das Bewußtsein für sie verloren haben. Diese Phänomene nahmen ein Eigenleben an und waren weiterhin präsent, jedoch außerhalb des Bewußtseins. Der psychologische Aspekt dieser nonverbalen Botschaften oder Einstellungen, derer sich die Menschen nicht bewußt sind, wurde von Reich als „Charakterpanzer“ bezeichnet. Er nannte ihn „Panzer“, weil das Wegdrücken dieser Einstellungen aus dem Bewußtsein einer psychologischen Abwehrfunktion dient, genau wie eine Art Panzer. Reich prägte den Begriff „Charakteranalyse“, um seine Methode zu bezeichnen, den Charakterpanzer des Patienten bewußt zu machen.

Neben den nonverbalen Aspekten der Kommunikation spiegelt sich der Charakterpanzer auch in der Qualität der Denkprozesse der Person sowie im Inhalt der Sprache der Person wider. Die traditionelle psychoanalytische Behandlung konzentriert sich in erster Linie auf die Interpretation verbaler Inhalte, während die Charakteranalyse, die ursprünglich als Ausarbeitung psychoanalytischer Techniken entwickelt wurde, den gesamten Charakter des Individuums einschließlich der nonverbalen Aspekte seines Ausdrucks in den Mittelpunkt stellt. Die Charakteranalyse beinhaltet daher, daß der Therapeut sowohl das nonverbale Verhalten des Patienten als auch manchmal den verbalen Inhalt oder die Qualität bzw. den Subtext der Kommunikation des Patienten verbal kommentiert.

Schließlich wurde Reich bewußt, daß diese Einstellungen nicht nur im unbewußten, emotionalen Geist des Patienten und somit im nonverbalen Ausdruck, der die Einstellungen und verbalen Produktionen des Patienten begleitet, verankert sind, sondern auch, daß der Panzer in Form einer chronischen Spannung tiefer im Körper auftritt, was Reich als „muskulären Panzer“ bezeichnete. Ein allgemeinerer Begriff wäre „somatischer Panzer“, da der Panzerungsprozeß neben Muskeln auch andere Organsysteme und Gewebe betreffen kann. Diese körperliche Verankerung von Einstellungen spiegelt sich in der Alltagssprache wider, z.B. „er ist ein harter Hund“ [he’s a hard-ass] oder „sie ist halsstarrig“. Menschen erleben Emotionen nicht nur psychisch, sondern auch körperlich, was beispielsweise zu Kopfschmerzen oder zu einer Magenverstimmung führt. Dies tritt noch häufiger bei Kindern auf, deren Fähigkeit, Gefühle in Worte zu fassen, im allgemeinen eingeschränkter ist. In der Tat kommt manchmal der erste Hinweis, daß man auf etwas emotional reagiert, aus dem eigenen Körper, nicht nur aus dem eigenen bewußten Geist, zumindest nicht nur aus dem Gehirn. Man hat zum Beispiel ein „Bauchgefühl“. Erst später tritt einem vors Bewußtsein, worauf man reagiert oder was man „fühlt“. Ein Gefühl kann eine Emotion ohne begleitenden Gedanken sein oder ein Gefühl kann eine Kombination aus Emotionen und bewußten Gedanken sein.

Es gibt ein Wechselspiel zwischen den Gebieten des Verbalen und Nonverbalen und dem somatischen Bereich. Das Gebiet des Verbalen umfaßt beispielsweise den somatischen Bereich, weil Sprechen ein somatischer Akt ist, der Lippen, Mund, Zunge, Kiefermuskeln, Kehlkopf, Lunge und Zwerchfell umfaßt. Tatsächlich kann der gesamte Körper auf die eine oder andere Weise am physischen Akt des Sprechens teilhaben. Darüber hinaus sind Emotionen körperliche und gleichzeitig psychologische Phänomene. In dieser Hinsicht gibt es also eine Einheit von Körper und Geist.

Reich entwickelte einen Weg, um den muskulären Panzer zu verstehen und zu bearbeiten. Er brachte den Patienten entweder dazu durch Atmen oder Treten oder Schlagen oder auf andere Weise die Anspannung zu lösen und damit die zugrundeliegende Emotion loszulassen, oder er bearbeitete die Muskelspannung des Patienten auch mit seinen eigenen Händen und löste so die Anspannung und befreite die zugrundeliegende Emotion manuell. Dieser Ansatz wird in der Orgonomie oft als „biophysikalische“ Arbeit bezeichnet, die im Gegensatz zur Charakteranalyse, die eine verbale Technik ist, eine nonverbale therapeutische Technik darstellt. Interessanterweise kann ein Therapeut aufgrund der Art der Wechselbeziehungen zwischen Geist und Körper durch eine der beiden Techniken – biophysikalische Arbeit oder Charakteranalyse – sowohl auf den Körper als auch auf den Geist Einfluß nehmen.

Als Reich Patienten folgte, die genesen sind und ihre Gesundheit aufrecht erhalten konnten, wurde sein Interesse für die Sexualität und deren Rolle in der emotionalen, psychischen und körperlichen Gesundheit wach. Er stellte fest, daß Menschen, die ihre Gesundheit aufrechterhalten, zur sexuellen Befriedigung fähig sind, während Menschen, die keine Gesundheit erlangen oder aufrechterhalten, chronische psychische und körperliche Rigiditäten aufwiesen, die ihre Fähigkeit beeinträchtigten, volle Befriedigung zu erlangen, was sowohl die emotionalen als auch die sexuellen Aspekte der Liebesbeziehungen betrifft. So wie die Fähigkeit, volle emotionale Beteiligung in der Liebe zu tolerieren, durch den Charakterpanzer eingeschränkt wird, werden auch die Bewegungen des vollständigen sexuellen Sichgehenlassens durch den Muskelpanzer eingeschränkt.

Schließlich interessierte sich Reich dafür, Bewegung in allen Lebensformen zu studieren, um die Natur der nonverbalen Ausdrucksbewegung beim Menschen und den Zusammenhang dieser Bewegungen mit anderen Bewegungsarten in der Natur besser zu verstehen. Er stellte fest, daß zum Beispiel die Bewegungen des Orgasmus eine pulsierende Qualität aufweisen, und machte die Beobachtung, daß Pulsation eine Bewegungsform ist, die in der Natur unter einer großen Anzahl verschiedener Bedingungen beobachtet werden kann. Das Pulsieren hat zwei Komponenten: Expansion und Kontraktion, die sich abwechseln. Reich beschloß, primitive Lebensformen unter dem Mikroskop zu untersuchen, um ihre Bewegungen, insbesondere ihre pulsierenden Bewegungen, zu beobachten. Schließlich verwendete er höhere Vergrößerungen als alle Wissenschaftler zuvor. Während dieser mikroskopischen Experimente machte Reich unabsichtlich zunächst einige Beobachtungen zum Zerfall organischer und anorganischer Materie. Durch die Verwendung des Elektroskops und anderer wissenschaftlicher Instrumente entdeckte er, daß diese Präparate diverser Stoffe beim Zerfall eine Energieform ausstrahlen, die durch bestehende energetische Konzepte, wie die elektromagnetische Theorie oder die Kernphysik, nicht ausreichend beschrieben oder erklärt wurde. Reich ging daran, eine Reihe von Experimenten durchzuführen, in denen die Funktionsweise dieser Energie in der Natur untersucht wurde.

Die Natur bewegt sich. Emotion ist auch eng mit Bewegung verbunden. Ein weiterer wichtiger Aspekt der Emotion ist, daß sie spontan entsteht. Reich definierte Emotion als: „eine Plasmabewegung“ [an expressive plasmatic motion, Übersetzung von Wolfe/Reich] (Reich 1949, S. 358). Reichs Definition zufolge besteht das plasmatische System aus dem autonomen Nervensystem, über das ich später sprechen werde, und dem Gefäßsystem. Ein anderer orgonomischer Wissenschaftler, Dr. Charles Konia, weist darauf hin, daß das vaskuläre System das endokrine, lymphatische und das Immunsystem umfaßt (1989, S. 224). Reich betrachtete die Plasmabewegung als Manifestation einer spontanen bioenergetischen Bewegung. Wie Reich sich ausdrückt:

Das Lebendige drückt sich in Bewegungen aus ... Das deutsche Wort „Ausdruck“ ... besagt wörtlich, daß sich im lebendigen System etwas „aus-“ oder „herausdrückt“ und sich folglich „bewegt“. Nichts anderes als das Vorquellen des Protoplasmas, also die Expansion und Kontraktion, kann gemeint sein. Die wörtliche Bedeutung von „Emotion“ ist „Herausbewegung“. Sie ist gleichzeitig „Ausdrucksbewegung“. Der physikalische Vorgang der plasmatischen Emotion oder Ausdrucksbewegung ist unabtrennbar verknüpft mit einer unmittelbar verständlichen Bedeutung, die wir den „Bewegungsausdruck“ [emotional expression] zu nennen pflegen. (1949, S. 360, kursiv im Original).
Ein Teil des Nervensystems, für den sich Reich sehr interessierte, war das autonome Nervensystem (ANS). Das ANS reguliert Funktionen, die meist unwillkürlich sind und sich normalerweise außerhalb des Wahrnehmung bzw. der bewußten Kontrolle befinden, wie Atemfrequenz, Herzfrequenz, Blutdruck, Verdauung, Wärmeregulierung, Blutfluß und Orgasmus. Reichs Interesse für das ANS wurde geweckt, als er bemerkte, daß der Patient manchmal eine starke emotionale Reaktion zeigte, begleitet von Veränderungen im Hauttonus, der Atemfrequenz und anderen Manifestationen von Änderungen in der ANS-Aktivität, wenn er den Patienten besonders effektiv auf eine charakterliche Haltung hinwies.

Das ANS hat zwei Zweige, das sympathische Nervensystem (SNS) und das parasympathische Nervensystem (PNS). Das SNS ist mit der sogenannten „Kampf oder Flucht“ -Reaktion verbunden, die körperliche Zustände von Angst und Wut vermittelt. Im Gegensatz dazu ist das PNS im allgemeinen mit Zuständen von Entspannung und Lust verbunden. Reich machte die Beobachtung, daß das PNS sowohl auf physiologischer als auch auf psychologischer Ebene mit einer lustvollen, expansiven Bewegung auf die Welt zu und mit entspannten, ungepanzerten Zuständen verbunden ist. Im Gegensatz dazu ist das SNS gemeinhin mit einer Kontraktion verbunden, mit anderen Worten einer ängstlichen oder wütenden abwehrenden Bewegung weg von der Welt. Es ist in gepanzerten Zuständen chronisch aktiviert. Wir sehen also wieder die Pulsation, ein grundlegendes Merkmal der Natur, in diesem Fall evident werdend durch die alternierenden Zweige des ANS.

Das Interessante am ANS ist u.a., daß es das physiologische Substrat bestimmter Aspekte der Geist-Körper-Beziehung darstellt. Wir wissen, daß wir eine Emotion erleben, u.a. weil ANS-vermittelte Änderungen in körperphysiologischen Funktionen wie der Herzfrequenz auftreten. Das ANS ist besonders stark mit Teilen des Gehirns verbunden, die emotionale, nonverbale Phänomene koordinieren, beispielsweise die rechte Seite des Gehirns im allgemeinen. Die rechte Gehirnhälfte kommuniziert dann mit der eher verbalen linken Gehirnhälfte. Durch Verbindungen zwischen dem ANS und dem zentralen Nervensystem (ZNS) „weiß“ das Gehirn also, was es „fühlt“. Das Erleben von Emotionen ist demnach eine Ganzkörpererfahrung, nicht nur etwas, das sich in bestimmten Strukturen des Gehirns zuträgt. Man könnte von einem „autonomen Selbst“ sprechen, mit dem man in Kontakt bleiben muß, um die eigenen Emotionen und den eigenen Körper vollständig wahrnehmen und erleben zu können.

 

Ergebnisse der zeitgenössischen Neurowissenschaft und Psychotherapie, die Parallelen zur orgonomischen Perspektive aufweisen

Es gibt heute Wissenschaftler und Psychotherapeuten, die nicht unbedingt mit der Orgonomie vertraut sind, aber Aspekte der Emotion, des Nervensystems (einschließlich des ANS), der Geist-Körper-Beziehung und der Beziehung zwischen verbalen und nonverbalen Bereichen beschreiben, die in gewisser Weise Befunde aus der Orgonomie unterstützen oder parallel zu ihnen verlaufen.

Reich war Schüler von Sigmund Freud. Freuds Theorien waren zu Beginn seiner Karriere viel körperorientierter als später, als Freud die Ich-Psychologie entwickelte. Zum Beispiel definierte Freud den „Trieb“ als „psychischer Repräsentant, der aus dem Körperinnern stammenden, in die Seele gelangenden Reize, als ein Maß der Arbeitsanforderung, die dem Seelischen infolge seines Zusammenhanges mit dem Körperlichen auferlegt ist“ (Freud 1915). Eine interessante Entwicklung war vor kurzem die Gründung eines Forschungsgebiets namens „Neuropsychoanalyse“ durch Mark Solms, einem Neuropsychologen und Psychoanalytiker. Solms gründete 1999 eine Zeitschrift mit dem Titel Neuropsychoanalysis und hat eine Reihe von Büchern zu diesem Thema verfaßt (siehe beispielsweise Solms 1997; Solms und Turnbull 2002; Kaplan-Solms und Solms 2002; Pace-Schott, Solms et al 2003). Solms hat neurowissenschaftliche Beweise vorgelegt, die viele Ansichten der Freudschen Psychoanalyse unterstützen, insbesondere die Freudsche Traumtheorie. Solms betont insbesondere neurowissenschaftliche Beweise für den Primat der Emotionen bei der Arbeit des menschlichen Gehirns und der Psyche. Da jede Diskussion über Emotionen dazu neigt, irgendwann eine Diskussion über den Körper einzubeziehen, führt Solms Betonung der Emotion zu einer Art Neurowissenschaft, die den Körper nicht vollständig ausläßt. Beispielsweise schreibt er:

„... das Wirken der Viszera [d.h. der inneren Organe des Körpers] ... bildet die Grundlage unserer fundamentalen Impulse oder ‚Triebe‘ (wie Freud sie nannte), und Veränderungen in unseren Trieben werden vor allem als Emotionen erfahren ... Das limbische System [die Teile des Gehirns, die Emotionen verarbeiten] als Ganzes kann als ‚Assoziationsbereich‘ für viszerale Informationen betrachtet werden. Die Wahrnehmung von viszeraler Information wird bewußt als das Fühlen von Emotionen registriert und (durch Assoziation) als Reminiszenzen in Form von: ‚Ich habe das gesehen, und es hat mich dazu gebracht so zu empfinden‘“ (Solms und Turnbull 2002, S. 28-29). Solms beschreibt die „... einheitliche Erfahrung des Bewußtseins...“, indem er erklärt: „... was unsere äußeren Wahrnehmungen miteinander verbindet, ist die Tatsache, daß sie auf unseren inneren Wahrnehmungen beruhen – die wiederum Wahrnehmungen unseres körperlichen Ichs sind” (S. 74f). „Emotionen ähneln einer Sinnesmodalität – einer nach innen gerichteten Sinnesmodalität, die Aufschluß über den aktuellen Zustand des Körperselbst gibt ...“ (S. 105). Wir können hier Resonanzen mit Reichs Sichtweise finden.

Allgemein kam es im Bereich der Neurowissenschaften in den letzten 20 bis 30 Jahren zu einem wachsenden Interesse an Emotionen (siehe beispielsweise Lewis 2008; Panksepp 1998; Panksepp, Biven 2012) und deren Beziehung zum Körper (Mate 2003). Sogar Kognitionspsychologen und Kognitionsneurowissenschaftler, die sich bislang ausschließlich auf das Gehirn konzentrierten, haben nun Modifikationen der kognitiv-psychologischen Theorie entwickelt, die einen wachsenden Bezug zum Körper beinhalten. Zum Beispiel gibt es jetzt eine Theorie der sogenannten „verkörperten Erkenntnis“ (siehe zum Beispiel Lakoff und Johnson 1999), die eine Betrachtung des Körpers und seiner geistigen Repräsentation in die Theorie der kognitiven Verarbeitung einbezieht. Mit dem Konzept der verkörperten Kognition theoretisieren Kognitionsneurolinguisten nun, daß alle Sprachen auf metaphorischen Ausgestaltungen grundlegender Grundbegriffe und Konzepte basieren könnten, die sich auf die Position des Körpers im Raum beziehen (siehe Lakoff und Johnson 1980, 1999; Johnson 1987; Lakoff 1987). Die Metapher selbst ist zu einem Lieblingsthema in psychoanalytischen Zeitschriften geworden, weil sie als etwas betrachtet wird, was eine Brücke zwischen Denken, Emotion und Körper darstellt (siehe beispielsweise Fonagy und Target 2007; Modell 2009; Rizzuto 2001).

Die Kognitivisten, die zunächst psychologische Modelle vorschlugen, die bewußte kognitive Prozesse als Primärphänomene und emotionale Prozesse als fast ausschließlich durch Kognitionen hervorgerufene Sekundärphänomene behandelten, mußten ihre Sichtweise im Lichte ihrer eigenen Forschung ändern (siehe beispielsweise Barlow 2002, S. 37-63). Während Freud von einem „dynamischen Unbewußten“ sprach, sprechen Kognitionspsychologen heute von einem sogenannten „adaptiven Unbewußten“ (siehe zum Beispiel Gladwell 2005), das in vielerlei Hinsicht dem dynamischen Unbewußten ähnelt, obwohl sie Sexualität und Aggression bei der Diskussion zu vermeiden scheinen. Jedenfalls haben moderne psychologische Forscher nun endlich angefangen mit Freud gleichzuziehen, denn sie schätzen, daß 95% unserer Handlungen unbewußt bestimmt sind (Bargh und Chartrand 1999).

Ein anderes Beispiel eines aktuellen Forschers, der die Verbindung zwischen Körper und Geist hervorhebt, ist Antonio Damasio (1994, 1999, 2003, 2010), ein Neurologe und Neurowissenschaftler, der eine Theorie des Bewußtseins vorgeschlagen hat, die in der orgonomischen Theorie widerhallt, da sowohl Damasio als auch Konia auf das retikuläre Aktivierungssystem (RAS, eine Struktur im Hirnstamm) verweisen als der vielleicht relevanteste Ort für die Integration von Eingaben von oben (kortikale Strukturen des Gehirns) und von unten (Neuronen, die Informationen aus dem Körper liefern) bei der Formation von Bewußtsein. Konia verwies 1981 auf die „entscheidende Rolle, die das retikuläre Aktivierungssystem bei der Aufrechterhaltung des Bewußtseins spielt“, und schlug vor, daß das RAS „die physiologische Grundlage für das Bewußtsein“ bildet (S. 254f). Er stellte fest, daß „die Wege zum und vom Hypothalamus, die einen wesentlichen Bestandteil der autonomen Funktion des Gehirns darstellen, im und durch das Retikularsystem verlaufen“ (S. 257). Er sagte weiter, daß „es drei grundlegende Arten von Bewußtseinsstörungen gibt: 1. Desintegration von Teilwahrnehmungen, die in das retikuläre System gelangen. Dies tritt typischerweise bei der schizophrenen Psychose auf ... 2. Reduktion des sensorischen Inputs in das retikuläre System aufgrund von Panzerung. Dies ist die Grundlage für den kontaktlosen Zustand, der häufig bei neurotischen Charakteren zu beobachten ist … mystische Bewußtseinsveränderungen beruhen zum Teil auch auf dieser Blockade. 3. Überschwemmungen des retikulären Systems aufgrund einer größeren Energiezufuhr zum Gehirn, die größer ist als die, die es tolerieren kann“ (ibid).

Solms und Turnbull (2002) beschreiben Damasios Vorschlag von 1999 folgendermaßen: „... der ‚Zustand‘ des Bewußtseins ist Produkt des aufsteigenden Aktivierungssystems des Hirnstamms, das das innere Milieu des Körpers überwacht ... ebenso wie die Assoziationszonen des posterioren Kortex nicht nur externe Wahrnehmungsinformationen erfassen und analysieren, sondern auch speichern, so daß auch diese tieferen, nach innen gerichteten Netzwerke [des RAS] abbildhafte ‚Karten‘ unserer viszeralen Funktionen enthalten ... [Der] bewußte Zustand wird von einem virtuellen Körper erzeugt ... [der] ‚dich‘ repräsentiert, die grundlegendste Verkörperung deines Selbst. Darüber hinaus stellt es den aktuellen Zustand deines Selbst dar: ‚Das bin ich, ich bin dieser Körper, und im Augenblick fühle ich mich so‘“ (S. 90). „... die kleine Person in deinem Kopf ist buchstäblich eine Projektion deines körperlichen Selbst“ (S. 93). „Bewußtsein hat alles Erdenkliche mit Verkörperung zu tun ...“ (S. 94).

Ein anderes Thema in der Neurowissenschaft, das in den letzten Jahren sehr populär geworden ist, war die Entdeckung sogenannter „Spiegelneuronen“: „Mitte der 1990er Jahre fand der italienische Neurowissenschaftler Rizzolati ... im prämotorischen Kortex von Makaken eine Klasse von Neuronen, die nicht nur bei selbstinitiierten Bewegungen feuerten, sondern auch bei der Beobachtung entsprechender Bewegungen bei anderen Affen ...“ (Wallin 2007, S. 76). Mit anderen Worten, dieselben Motoneuronen, die gefeuert haben, als der Affe seinen Körper bewegte, wurden auch ausgelöst, als der betreffende Affe einen anderen Affen beobachtete, der ähnliche Bewegungen machte. Dies hat die 100 Jahre alte Doktrin, daß motorische und sensorische Neuronen zwei völlig getrennte Kategorien von Neuronen in separaten Bereichen des Gehirns sind, umgeworfen. Darüber hinaus „sind es nur beabsichtigte Aktionen, die das Feuern von Spiegelneuronen auslösen…“, d.h. Aktionen, die geplant und absichtlich ausgeführt werden. „Es ist offensichtlich nicht unsere Wahrnehmung von Handlungen per se, die eine mitschwingende Antwort auslöst, sondern vielmehr die Wahrnehmung von Handlungen, die den Eindruck vermitteln, daß eine Absicht dahinter steckt ...“. Dies hat zu der Theorie geführt, daß Spiegelneuronen die neuronale Basis für das Phänomen der Empathie und für bestimmte Aspekte der Wahrnehmung der Motive oder Absichten der Handlungen anderer darstellen können. Das Interessante ist, daß diese Wahrnehmungen eng mit der Beobachtung somatischer, nonverbaler Ausdrucksbewegungen in anderen verbunden sind: „... Es sind nicht nur die wahrgenommenen beabsichtigten Zustände anderer, sondern auch ihre Emotionen und körperlichen Empfindungen, die unsere Spiegelneuronen dazu bringen können zu feuern .... es wurde theoretisiert (Iacoboni 2005), daß die Insula (ein Bereich des Gehirns) unsere Eindrücke der Affekte [Emotionen] anderer aus dem Kortex, der wahrnimmt, zur Amygdala [einem Kern im Gehirn] übermittelt, die dann im Beobachter körperliche Gefühle auslöst“ (S. 77). Dies ist ein Beispiel dafür, wie die Neurowissenschaft den Weg weist für ein anatomisches und physiologisches Verständnis der Prozesse der nonverbalen, unbewußten, unwillkürlichen Übertragung von Emotionen von einer Person, oder einem Lebewesen, auf eine andere (für eine ausführliche Diskussion über die Entdeckung der Spiegelneuronen und ihre Implikationen siehe Iacoboni 2008).

Das ANS hat in letzter Zeit sowohl in der psychotherapeutischen als auch in der neurowissenschaftlichen Literatur immer mehr Aufmerksamkeit erhalten. „Das Spiegelneuronen-System des Gehirns sorgt dafür, daß wir tatsächlich von selbst mit unseren Patienten in Resonanz treten“ (Wallin 2007, S. 296). Stephen Porges, ein Physiologe und Experte für das parasympathische Nervensystem, hat etwas vorgeschlagen (2011), was er als „polyvagale Theorie“ bezeichnet. Porges ist der Direktor des Brain-Body Center an der University of Illinois:

Nach der Theorie von Porges hat die autonome Regulierung des Menschen drei Verfahrensebenen. Die früheste und primitivste Form der autonomen Regulation, die sich entwickelt, ist ein extremer parasympathischer Zustand, der vom dorsalen (hinteren) Aspekt des Vagusnervs kontrolliert wird. Neben normalen parasympathischen Funktionen kann die hintere Nervenwurzel den Organismus in den Zustand eines extrem langsamen Stoffwechsels versetzen. Dieser extreme Zustand wurde von Reptilien genutzt, um unter Wasser Sauerstoff zu sparen, und in einer Reihe anderer Situationen. Säugetiere verwenden diesen Zustand unter lebensbedrohlichen Umständen, in denen Flucht keine Option ist. In diesem Zustand extremen dorsalen Vagotonus sind Herz, Atemfrequenz und Muskeltonus niedrig, und das Säugetier hat nur eine sehr geringe Fähigkeit, auf die Welt Bezug zu nehmen oder auf sie zu reagieren. Der Einfachheit halber beschreiben wir diesen Zustand als Immobilisierung. Wenn dies beim Labortier auftritt, bleibt das Tier stehen, wird schlaff und defäkiert.

Die nächsthöhere Stufe der autonomen Regulierung ist die Erregungsreaktion des Kampfes oder der Flucht mit hohem Sympathikus ... Der Erstarrungszustand ist ebenfalls einer hoher sympathischer Erregung. Im erstarrten Zustand bewegt sich das Tier nicht, hat aber eine hohe Herz- und Atemfrequenz und einen hohen Muskeltonus. Dies unterscheidet sich deutlich vom Immobilisierungszustand, der das entgegengesetzte physiologische Profil aufweist. Der Erstarrungszustand kann je nach Wahl auftreten, um sich vor Raubtieren zu verbergen oder den Tod vorzutäuschen, oder, wie es beim Menschen am häufigsten vorkommt, kann das Tier erstarren, weil es nicht reagieren kann, aber dennoch einen hohen sympathischen Tonus aufrechterhält. Die verbreitete Ansicht in der Traumatheorie lautet, daß der Erstarrungszustand aus der gleichzeitigen Erregung des sympathischen und des parasympathischen Nervensystems resultiert.

Schließlich identifiziert die Polyvagal-Theorie eine dritte und am weitesten fortgeschrittene Strategie des autonomen Nervensystems, das social engagement system [System, das auf Kontakt und Kommunikation ausgerichtet ist]. Dieses System umfaßt die vordere Nervenwurzel des Vagus sowie Aspekte anderer Hirnnerven. Zusammen steuern diese Nerven und ihre jeweiligen Nuklei im Gehirn die soziale Bindung und das Einsetzen von Verhaltensweisen wie Gesichtsausdruck, Vokalisation, Zuhören und Saugen. Bei sozialem Engagement oder hohem ventralem Vagotonus variieren Herz- und Atemfrequenz, beschleunigen und verlangsamen sich je nach Erleben. Man stelle sich Laborratten vor, die an einer Gruppenerfahrung teilhaben. Jede Ratte nimmt Kontakt mit anderen Ratten auf und beendet ihn wieder, nähert sich, schnüffelt und zieht sich zurück. Dabei geht ihre Herzfrequenz auf und ab, der Tonus ihrer Gesichtsmuskeln variiert, Augen, Nasen und Ohren bewegen sich aufeinander zu und voneinander weg. Sie haben die Fähigkeit, mit einer Vielzahl von Verhaltensweisen zu reagieren. Diese Variabilität ist wesentlich für das Engagement. Es kann als grundlegender Aspekt der Reaktionsfähigkeit oder Abstimmung angesehen werden. Sieht man, daß die Wurzeln des sozialen Engagements, der Reaktionsfähigkeit und der Abstimmung im Hirnstamm beheimatet sind, erkennt man, daß emotionale Relationalität die Grundlage der menschlichen Natur ist. (Aposhyan 2004, S. 41-44)
Wir sehen hier Resonanzen mit und einige mögliche Unterschiede zu Reichs konzeptioneller Annäherung an das ANS. Es ist nicht Gegenstand dieses Artikels die Feinheiten und Komplexitäten auseinanderzuklauben, die beim Vergleich der aktuellen Konzepte des ANS mit der standardmäßigen orgonomischen Konzeptionierung anfallen. Das ANS steht jedenfalls im Vordergrund des gegenwärtigen psycho-physiologischen Denkens. Das ANS wird auch bei einer Vielzahl von psychiatrischen Erkrankungen untersucht, wie z.B. der Borderline-Persönlichkeitsstörung, der antisozialen Persönlichkeitsstörung und der multiplen Persönlichkeitsstörung (siehe beispielsweise Nijenhuis und den Boer 2009, S. 349f).

Eine weitere starke Strömung im Bereich der zeitgenössischen Psychotherapie ist das wachsende Interesse an Achtsamkeitsmeditation. Die orgonomische Therapie hat einen Ansatz, der von Meditation sehr verschieden ist und in gewisser Weise auch antithetisch zur Meditation steht, ich erwähne jedoch die Achtsamkeits-Bewegung, weil sie ein weiteres Beispiel dafür ist, wie unsere Kultur begonnen hat sich Ansätze zu eigen zu machen, die sich auf die Geist-Körper-Beziehung und das ANS konzentrieren. Die Achtsamkeitsmeditation konzentriert sich auf die Rolle des ANS bei Streß sowie bei psychischen und medizinischen Störungen und hat sich in kontrollierten Studien zur Behandlung einer Reihe von psychologischen und psychosomatischen Störungen als wirksam erwiesen.

Die Verhaltenstherapie ist eine weitere Art von Therapie, die sich in ihrer Orientierung weitgehend von der orgonomischen Therapie unterscheidet. Die Verhaltenstherapie konzentriert sich jedoch auch darauf, daß der Patient lernt, wie er mit seinem autonomen Tonus umgeht, beispielsweise durch Übungen zur Aktivierung der sogenannten „Entspannungsreaktion“, bei der die parasympathische Aktivität verstärkt wird.

Im allgemeinen konzentrieren sich die Felder Psychologie, Psychotherapie und Neurowissenschaften immer mehr auf den Körper, Emotionen und nichtverbale Elemente in Kommunikation und Psychotherapie (siehe beispielsweise Anderson 2008, Aposhyan 2004, Aron und Anderson 1998, Fosha 2000; Fosha, Siegel, Solomon 2009, Fotopoulou, Pfaff, Conway 2012, Goleman 1995 und 2006, Gottman 1997, Knoblauch 2000, La Barre 2001, Modell 2003, Ogden 2006, Schore 2003a, 2003b, Spezzano 1993, Totten 2003, 2005, Wallin 2007). Manchmal wird Reichs Beitrag anerkannt, meistens jedoch nicht. Obwohl der zunehmende Fokus auf den Körper und die Beziehung zwischen dem Verbalem und dem Nonverbalen in psychoanalytischen Schriften ein neueres Phänomen darstellt, hat sich die Psychoanalyse immer auf die wichtige Rolle von Emotionen im menschlichen Leben und in der psychotherapeutischen Behandlung konzentriert. Freud betonte, daß Heilung allein durch intellektuelle Einsicht, ohne emotionale Entladung, nicht möglich sei.

Die Charakteranalyse entwickelte sich innerhalb der psychoanalytischen Tradition. Empirische Forscher (z.B. Blagys und Hilsenroth 2000) haben eine Reihe von Merkmalen identifiziert, die die psychodynamische (d.h. psychoanalytisch orientierte) Therapie zuverlässig von der kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) unterscheiden. Eines dieser Unterscheidungsmerkmale ist der „Fokus auf den Affekt und den Ausdruck von Emotionen ... im Gegensatz zu einem kognitiven Fokus, bei dem der Schwerpunkt auf Gedanken und Überzeugungen liegt“ (Shedler 2010, S. 99). Sechs weitere charakteristische Merkmale der psychodynamischen Therapie wurden identifiziert, von denen viele eindeutig einen Fokus auf den Charakter beschreiben, wie ihn die Orgonomie konzeptualisieren würde: „2. Erkundung von Versuchen, quälende Gedanken und Gefühle zu vermeiden ... 3. Identifikation wiederkehrender Themen und Muster .... 4. Diskussion vergangener Erfahrungen (Entwicklungsfokus) .... 5. Fokus auf zwischenmenschliche Beziehungen .... 6. Fokus auf die therapeutische Beziehung“ (ibid).

Obwohl in den letzten 20 bis 30 Jahren die KVT die empirisch nachgewiesene Wirksamkeit für sich reklamiert hat, hat die neuere Forschung begonnen, die Schlußfolgerung zu stützen, daß die psychodynamisch orientierte Therapie für eine Vielzahl von psychiatrischer Erkrankungen mindestens genauso wirksam und wahrscheinlich effektiver ist, mit längerfristiger Wirkung als die KVT (siehe zum Beispiel Shedler 2010, Yeomans et al 2012). Darüber hinaus haben psychotherapeutische Ansätze, die die Emotion explizit betonen, wie die sogenannte Emotionsfokussierte Therapie für Paare, in empirischen Studien gleichermaßen hohe Wirksamkeit gezeigt (siehe beispielsweise Johnson 2009).

Die Wissenschaft hat im Allgemeinen zunehmend erkannt, daß Körper, Gehirn und Geist aus demselben Stoff sind und daß das, was zwischen Menschen und innerhalb der einzelnen Psyche geschieht, unseren Körper auf jeder Ebene beeinflußt. Ein Artikel im Wall Street Journal (Wang 2012) beschreibt:

Wissenschaftler stellen zunehmend fest, daß Depressionen und andere psychische Störungen ebensosehr Erkrankungen des Körpers wie des Geistes sein können. Menschen mit psychischem Langzeitstreß, Depressionen und posttraumatischen Belastungsstörungen neigen dazu, frühere und ernstere Formen von körperlichen Erkrankungen zu entwickeln, die normalerweise Menschen im Alter treffen, wie Schlaganfall, Demenz, Herzkrankheiten und Diabetes. Aktuelle Untersuchungen zeigen auf, was auf zellulärer Ebene geschehen könnte, um dies zu erklären. Wissenschaftler stellen fest, daß die gleichen Chromosomveränderungen, die mit zunehmendem Alter der Menschen auftreten, auch bei Menschen mit starkem Streß und Depressionen zu finden sind.
Forscher haben in Experimenten auch gezeigt, daß Fürsorge genetische Struktur, Funktion und Expression beeinflussen kann. Zum Beispiel wurde gezeigt, daß Rattenwelpen, die eine größere Menge an liebevoller Aufmerksamkeit der Mutter erhalten (gemessen an der Häufigkeit des Leckens durch die Mutter), eine erhöhte Methylierung bestimmter DNA-Abschnitte aufweisen.

Ein weiterer interessanter Befund stammt aus der Forschung mit Affen. Es wurden zwei Affenstämme gezüchtet, von denen ein Stamm neurotischer war, schlechte soziale Fähigkeiten hatte und ausnahmslos am Ende der Dominanzhierarchie endete. Der andere Stamm war eine Supermama, das Äquivalent eines Therapeuten-Affen, der überragende Fähigkeiten in der Erziehung zeigte und dessen Nachkommen außergewöhnlich gut angepaßt und dominant waren. In der zweiten Phase des Experiments wurden die neurotischen Affen ihren leiblichen Müttern entrissen und den Supermüttern zugeführt. Diese neurotischen Affen verwandelten sich, wurden gut angepaßt und tatsächlich außergewöhnlich dominant.

 

Der Weg eines Orgonomen zur Orgonomie

Ich möchte einige meiner eigenen Gedanken über Emotionen zur Sprache bringen und einiges darüber, was Reich und andere in der Orgonomie über Emotionen gesagt haben und über die Beziehung zwischen Wörtern und Emotionen. Dabei werde ich persönliche Geschichten über einige der Dinge erzählen, von denen ich denke, daß sie mich zur Orgonomie und zum Thema Emotion hingezogen haben könnten. Ich hoffe, daß dies in den Köpfen und Herzen der Leser einige Überlegungen zur eigenen Lebensreise anregt, was im Leben wirklich wichtig war und was einen dazu gebracht hat, die Entscheidungen zu treffen, die man getroffen hat und darüber, was einen begeistert und motiviert; und was diejenigen betrifft, die sich für die Orgonomie interessieren, wie es dazu kam, daß Sie sich für die Orgonomie interessiert haben und was Sie an der Orgonomie berührt hat. Ich hoffe, daß dieses kurze Verweilen beim Persönlichen unser Denken darüber voranbringt, was Emotionen sind und warum sie manchmal lauter sind als Worte.

Als ich diesen Artikel schrieb, habe ich mich gefragt: Warum wollte ich über dieses Thema, die Emotion, sprechen? Und wie tief muß ich in mich selbst dringen, um diese Frage beantworten zu können? Bezüglich meiner eigenen Geschichte muß ich damit beginnen, daß ich eine intensive emotionale und intellektuelle Reaktion auf Reichs Arbeit hatte, als ich sie 1975, 20 Jahre alt, erstmals kennenlernte. Um die Sprache der 70er Jahre zu verwenden, fand ich seine Einsichten und Untersuchungen „umwerfend“. Ich denke, dies ist auch eine Art zu sagen, daß die Orgonomie meine Denkweise über die Dinge verändert hat.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich angenommen, daß ich wahrscheinlich Schauspieler werden würde. Die Schauspielerei hatte mich seit ungefähr meinem fünften Lebensjahr sehr gefesselt. Meine Eltern waren Schauspieler und als Kind war ich ein paarmal mit ihnen auf der Bühne aufgetreten. Ich identifizierte mich stark mit meinem Vater, der ein erfolgreicher Schauspieler war. Aber als ich Teenager war, interessierte ich mich eher für das Leben in der „freien Natur“, für die Natur und ihre Erforschung. Ich habe ein paar Sommer auf einer Ranch in Montana verbracht. Ich verbrachte die Abschlußklasse der Oberstufe in einem Alternativprogramm, in dem wir elf Monate lang durch die Vereinigten Staaten reisten, die ganze Zeit draußen schliefen, in der Wildnis wanderten und etwas über die Natur lernten. Dies hatte einen enormen Einfluß auf mich.

In meinen frühen Zwanzigern machte ich lange Wanderungen in der Wildnis, einmal für einen zweimonatigen Trip. In diesen Jahren verbrachte ich viel Zeit alleine, trampte durch alle 48 US-Staaten, fuhr Güterzüge usw. (es war „eine 70er Jahre-Sache“!). Ich denke, daß meine Erfahrungen mit der Natur und dem Alleinsein mit der Reise verbunden waren, die ich zu dieser Zeit während der späten Adoleszenz unternahm, eine Reise, bei der die Erwachsenenwelt, in die ich gerade eintrat, tief in Frage gestellt wurde. Ich fühlte mich zerrissen zwischen tiefen Gefühlen, die aus meiner Kindheit stammen, die ich in Kontakt mit Schauspielern und der Theaterwelt verbrachte, der Welt der Menschen, der Kulturwelt; im Gegensatz zur nichtmenschlichen Welt, dem riesigen Reich der Natur, von dem ich mich sehr berührt fühlte und die mich stark beeindruckte. Ich hatte damals das Gefühl, daß die Natur voller Wahrheit, Schönheit und Leben war, während die Menschheit voller Ausweichen, Häßlichkeit und Zerstörung war. Gewisserweise hatte ich das Gefühl, man könne sich auf die Natur verlassen, aber nicht auf Menschen, was mit diversen persönlichen Erfahrungen zu tun hat, die ich durchlebt habe.

Dieser Unterschied zwischen der menschlichen und der natürlichen Welt erinnert mich an Reichs Kapitel mit der Überschrift „Bühne und Wiese“ in seinem Buch mit dem Titel Die kosmische Überlagerung, das ich zu dieser Zeit zum ersten Mal las. In dem Buch schreibt Reich:

In welcher Weise ist der Mensch in der Natur verwurzelt? ... der Autor hat sich bemüht, die letzten Konsequenzen aus dem Wissen über das Funktionieren des Menschen zu ziehen, das er sich in mehr als dreißig Jahren intimer Kenntnis der charakterologischen Vorgänge hinter der Bühne des menschlichen Lebens angeeignet hat. … er hat die Tür geöffnet, die von der Kulisse des Theaters zu den weitläufigen Feldern und Wiesen führt, die das Theater des gegenwärtigen Alltagslebens umgibt. Für einen Beobachter, der auf diesen Wiesen steht, über sich die schimmernden Sterne am endlosen Firmament, wird das Schauspiel auf der Bühne befremdlich sein. Es hat den Anschein, als stünde der weite Himmel der stillen Nacht in keinem Zusammenhang mit dem aufgeführten Stück und seiner Thematik ... (Reich 1951, S. 10f, Übersetzung verbessert, PN).
Junge, diese Worte klingen heute noch wahrer! Reich fährt fort:

Wenn Christus Sorgen hatte, dann zog er sich in die Einsamkeit und Stille einer Wiese oder eines Hügels zurück ... Alle religiösen Bewegungen der Menschheitsgeschichte haben versucht, die Botschaft von der emotionalen Tiefe von der Wiese auf die Bühne drinnen zu versetzen, doch vergebens .... (S. 12f, Übersetzung verbessert, PN). Die Orgonomie hat uns dadurch, daß sie Übergänge vom Denken zu den Emotionen, von den Emotionen zu den Instinkten, von den Instinkten zu den bioenergetischen Funktionen und von den bioenergetischen Funktionen zu den physikalischen Funktionen der Orgonenergie sichtbar gemacht hat, einige wichtige Anhaltspunkte … geliefert. (S. 14, Übersetzung verbessert, PN) .... alle Ereignisse, die auf der Bühne stattfinden, [sind] irgendwie auf das Geschehen auf der Wiese zurückzuführen. (S. 14, Übersetzung verbessert, PN).
Warum zitiere ich diese Passage? Ich weiß es nicht!! Es bewegt mich einfach wirklich sehr. Ich habe aus der Orgonomie gelernt, daß es nicht immer notwendig ist, sofort zu verstehen, warum man fühlt, was man fühlt, daß es das Beste ist, sich einfach seinen Gefühlen zu überlassen, und oft wird das Verständnis später spontan folgen.

„Bühne“ könnte unter anderem als Metapher für Worte betrachtet werden, während „Wiese“ als Metapher für Emotionen betrachtet werden könnte. Ein anderer Gedanke über meine eigenen Erfahrungen ist, daß die Orgonomie geholfen hat, die Spaltung in mir zu heilen zwischen „Wiese“, die ich als die Wahrheit empfand, und „Bühne“, von der andere behaupteten, daß sie die Wahrheit sei.

Reichs Schriften haben mich zutiefst bewegt. Sie haben mich sowohl emotional als auch intellektuell in Erregung versetzt und inspiriert. Ich fühlte mich zu seinen Schriften hingezogen und wollte die Dinge genauso tief fühlen wie er und die Natur einschließlich der menschlichen Natur in der tiefen und profunden Art und Weise verstehen, wie er es tat. Nach einem mehrjährigen Umweg in den 1980er Jahren, als ich professioneller Schauspieler wurde, entschied ich mich im Alter von 34 Jahren, als Neuling für vier Jahre an ein College zurückzukehren und dann ein Medizinstudium aufzunehmen, um Psychiater und medizinischer Orgonom zu werden. (Ja, das heißt, ich habe mit 42 Jahren das Medizinstudium abgeschlossen und meine Facharztausbildung mit 47 abgeschlossen, also vor 15 Jahren!! Puh!! Außerdem hatte ich zwei Kinder!) Obwohl ich der Schauspielerei sehr verbunden war, war Orgonomie zu meiner Muse geworden, das Drehbuch, das mich mehr als alle anderen Drehbücher gefesselt hat und in dem ich am meisten auftreten wollte.

Ich hatte in den 1970er Jahren an einer Gruppentherapie-Erfahrung teilgenommen, die in vielerlei Hinsicht an meine Schauspielerfahrungen erinnerte. In den Gruppen wurden tiefe Dinge ausgedrückt, manchmal durch Worte, manchmal nonverbal durch Wut oder Weinen oder sogar durch Tanzen. Mein Vater, der Schauspieler, begleitete mich zu einer langen Gruppensitzung am Wochenende und sagte anschließend, daß dies zu den besten Schauspielleistungen gehörte, die er je gesehen hatte. Damit meinte er nicht falsche Vorspiegelungen, sondern echten, aufrichtigen, tiefen und wahrhaftigen emotionalen Ausdruck. Es war eines der besten Theater, das wir beide jemals erlebt hatten.

Schauspiel beinhaltet zwar verbale Sprache, aber auch Körpersprache. Wenn die Körpersprache „ausgeschaltet“ wird, ist das Schauspielern überhaupt nicht zwingend oder glaubwürdig. Die Wahrheit liegt in den Worten, aber auch im körperlichen Ausdruck. Mein Vater sagte bei der Lektüre dieser Ausführungen: „Vor einigen Jahren konnte ich mich der Methode annähern, Worte nicht zu spielen oder an Worte zu denken, sondern mich zu bemühen, die Emotionen zu beantworten, die ich in den Augen des anderen Schauspielers sehen konnte“ (persönliche Mitteilung). Vielleicht hat mein Hintergrund in der Schauspielerei mein Interesse an der Beziehung zwischen verbaler und nonverbaler Erfahrung beeinflußt. Emotion ist sowohl mit einem tiefen verbalen als auch mit einem tiefen nonverbalen Ausdruck verbunden.

Seit einigen Jahren bin ich daran interessiert, die Beziehung zwischen dem verbalen und dem nonverbalen Bereich besser zu verstehen. Ich merke immer mehr, wie wir alle ständig mit unserem Körperausdruck „nonverbal“ miteinander „reden“. Unser Kontakt mit uns selbst beinhaltet auch das Kontrollieren unserer eigenen körperlichen Zustände. Wir sprechen von „Bauchgefühl“ oder „innigen Gefühlen“ oder von etwas, das uns „unter die Haut geht“. Wenn wir von etwas emotional bewegt werden, können wir Gänsehaut bekommen oder andere Empfindungen in unserem Körper verspüren.

Ich war schon immer auf die nonverbale Dimension „eingestellt“. Mir ist aufgefallen, daß ich viel mehr auf das reagiere, was ich in den Augen oder im Gesicht eines Menschen ausgedrückt sehe, oder auf das, was ich in seinem Tonfall höre, als auf die tatsächlichen Worte, die er von sich gibt, vor allem, wenn die Wörter nicht mit dem übereinstimmen, was der Rest des Körpers „sagt“. Ich realisiere, wie ich die Worte „ausstelle“ und in eine Art Tagtraum eintrete, in dem ich seine nonverbalen Botschaften beobachte und sie im Inneren intern beantworte, Botschaften, die ihm vielleicht selbst nicht bewußt sind. Du weißt wovon ich rede?

Erst als ich ungefähr 30 war, wurde mir klar, daß ich nicht wirklich die Wörter eines Songs höre – ich höre den Klang der Wörter. Mir wurde klar, daß ich oft keine Ahnung hatte, worum es in einem Song geht, auf verbaler Ebene. Ich habe mich immer darauf konzentriert, welche Gefühle die Sounds in mir hervorriefen, nicht so sehr auf den verbalen Inhalt der Texte. Für mich erzählten mir die Musik und der Klang der Wörter eine Geschichte, die lauter sprach, als die Worte selbst. Und ich fühle mich genauso, wenn ich mit Menschen interagiere oder sie beobachte.

Körpersprache, Ausdruckssprache, Emotion sind ansteckend. Es wird von Körper zu Körper ohne bewußte Absicht oder bewußte Teilnahme übertragen. Man fühlt, was andere fühlen, ob man will oder nicht. Reich brachte dies schön zum Ausdruck, als er schrieb:

Wenn in einer Gruppe von Sperlingen ein einziger Sperling unruhig wird und Gefahr witternd davonfliegt, fliegt die ganze Gruppe, gleichgültig ob alle anderen Sperlinge die Ursache der Unruhe bemerkt haben oder nicht … Der Bewegungsausdruck des Kranken führt in unserem Organismus unwillkürlich eine Imitation herbei. Indem wir imitieren, empfinden und verstehen wir den Ausdruck in uns selbst ... Unter „Charakterhaltung“ verstehen wir den „Gesamtausdruck“ eines Organismus. Dem entspricht wörtlich der „Gesamteindruck“, den ein Organismus auf uns macht. (Reich 1949, S. 478f, kursiv im Original).
Mir wurde immer mehr bewußt, daß so viel im Leben eine plasmatische Erfahrung ist, eine organismische Erfahrung, etwas, das vom Körper bestimmt wird, nicht nur vom Gehirn oder von Worten. Es ist, als ob das Gehirn nur Mitfahrer wäre. Der Körper „weiß“, bevor das Gehirn „weiß“. Das Gehirn versucht zu artikulieren, was der Körper ihm sagt, Dinge in Worte zu fassen, die manchmal fast unmöglich in Worte zu fassen sind. Dies steht im Einklang mit der Vorstellung, daß das ANS, dessen Funktion so tiefgehend mit körperlichen, emotionalen Erlebnissen verbunden ist, eine weitaus wichtigere Rolle im menschlichen Leben spielt, als das bisher außerhalb der Orgonomie gewürdigt wurde. In der konventionellen Psychiatrie und Neurowissenschaft wird das ZNS gegenüber dem ANS weit überbetont, aber ist das wirklich gerechtfertigt? Dr. Robert Harman hat darüber in The Journal of Orgonomy geschrieben. Er schreibt:

Das autonome Nervensystem hat sich viel weiter entwickelt als das Gehirn. Das autonome Nervensystem wird manchmal als „primitives“ Nervensystem verstanden im Gegensatz zum Gehirn … das genaue Gegenteil ist der Fall … Das Gehirn eines Menschen hat sich gegenüber dem Gehirn eines Fisches sehr wenig verändert. ... mit einer Ausnahme ... dem retikulären System ... in 300 Millionen Jahren erscheint nichts „Neues“ ... Im Gegensatz dazu ändert sich das autonome Nervensystem in jeder Entwicklungsstufe tiefgreifend .... es ist im Fisch nicht vollständig vorhanden. (Harman 2007, S. 33)
Dr. Harman erklärt, daß die Evolution des ANS eng mit der Evolution der emotionalen Funktion bei Tieren zusammenhängt, im Gegensatz zur Funktion der Sensation, die eher mit dem ZNS verbunden ist und in der Evolution viel früher vorhanden ist. Daher entspricht die verbreitete Vorstellung, daß Emotionen primitiv sind und das Denken, das als eine Art Sensation betrachtet werden kann, fortgeschrittener ist, zumindest in gewisser Weise genau dem Gegenteil der Wahrheit. Dr. Harman läßt die Entwicklung des ANS Revue passieren und weist darauf hin, daß es bei Säugetieren und insbesondere beim Menschen am höchsten entwickelt ist (Harman 2007).

Woher kommen Wörter? Entstammen sie unserem Willen oder kommen sie über uns, wie es die Emotionen tun? Nietzsche (1886, S. 31) formulierte es so: „[E]in Gedanke kommt, wenn ‚er‘ will, und nicht wenn ‚ich‘ es will.“ Emerson (2001) schrieb: „Der Mensch ist ein Strom, dessen Quelle verborgen ist. Unser Wesen steigt in uns herab, wir wissen nicht von wo“ (S. 163). „... ich stelle mir vor, daß der Mensch immer von hinten angesprochen wird und nicht in der Lage ist, den Kopf zu drehen, um den Sprecher zu sehen“ (S. 87).

Es scheint mir, daß Worte irgendwie aus dem Körper kommen. Ich habe das Gefühl, daß Worte irgendwie aus körperlichen Erfahrungen geformt werden. Es fühlt sich an, als ob sie aus meinem Bauch kommen, aber wie kann ich das erklären? Ist das eine Art Metapher oder ist es buchstäblich wahr? Wenn es wahr ist, dann sprechen Emotionen nicht nur lauter als Worte, sondern Worte werden in gewissem Sinne von Emotionen und körperlichen Erfahrungen abgeleitet. Es gibt Forschungen (Begley, 1998, McGinnis 2002), die darauf hinweisen, daß „Gesten uns helfen können, Worte überhaupt zu finden. Es ist, als ob der Körper zum Teil zuerst weiß und dann hilft, das passende Wort zu finden“ (Heuer 2005). Es stellt sich heraus, daß orgonomische Schriften viel dazu zu sagen haben. Reich äußerte sich in Charakteranalyse wie folgt:

Es ist offenkundig, daß die Sprache in ihren Wortbildungen sich an die Wahrnehmung innerer Bewegungszustände und Organempfindungen anlehnt und daß die Worte, die emotionelle Zustände beschreiben, die entsprechenden Ausdrucksbewegungen des Lebendigen unmittelbar wiedergeben. (1949, S. 475) …sowohl der Sprachgebrauch wie auch die Empfindung, die man vom Verhalten eines anderen bekommt, in einer anscheinend gesetzmäßigen Weise gänzlich unbewußt den betreffenden Zustand nicht etwa nur bildlich, sondern vielmehr unmittelbar wiedergibt. (ebd., S. 439).
Dr. Konia hat auch ausführlich darüber geschrieben. Er schreibt:

„... sowohl Ideen als auch Wörter stammen aus der Wahrnehmung der Organempfindungen. Die kortikalen Sprachzentren ... integrieren lediglich die verschiedenen Komponenten der Sprachfunktion ... “ (Konia, 1983, S. 233, kursiv im Original). „… die Formulierung, daß Ideen aus der Wahrnehmung von Emotionen und Empfindungen im Körper stammen, basiert auf der klinischen Beobachtung, daß eine therapeutische Verbesserung eintritt, wenn der emotionale Ausdruck des Körpers den damit verbundenen Ideen vorausgeht. Umgekehrt funktioniert das Ausdrücken von Ideen vor dem emotionalen Ausdruck als Widerstand und führt in eine therapeutische Sackgasse. Sobald die in der gepanzerten Muskulatur enthaltene Energie emotional ausgedrückt wird, entstehen Ideen, die sich speziell auf den emotionalen Ausdruck beziehen. Dieser klinische Befund unterstützt die Ansicht, daß Ideen im Gehirn wahrgenommen werden, aber auf körperlichen Sensationen und Emotionen beruhen“ (Konia, 2004, S. 93, kursiv im Original). (Beachten Sie die Ähnlichkeiten zwischen diesen Zitaten und dem Zitat von Solms im zweiten Abschnitt dieses Vortrags.)
Konia und Harman haben auch äußerst interessante Beiträge zum Verständnis des Schlafes geleistet. Es stellt sich heraus, daß Gedanken, Worte und Träume einige gemeinsame Merkmale und Funktionen aufweisen. Konia erklärt: „Sowohl Gedanken als auch Träume stammen aus der Wahrnehmung der Erregung von Emotionen und Sensationen ...“ (Konia 2007, S. 53), mit anderen Worten, aus der Wahrnehmung von Organempfindungen, genau wie bei Wörtern. Sowohl Sexualität als auch das Träumen „dienen der Regulierung des Energiehaushalts des Organismus“ (S. 57). Die Panzerung stört die Schlaffunktion, die wie viele andere Funktionen auch Pulsation beinhaltet. „Der Traum ist … eine Form der bioenergetischen Entladung …“ (S. 53).

Harman (2007) stellt fest, daß „Schlaf notwendige Prozesse des autonomen Nervensystems beinhaltet, die nicht während des Wachlebens stattfinden können“ (S. 9). „Im Schlaf etablieren das plasmatische System im allgemeinen und das autonome Nervensystem im besonderen ihre Vorherrschaft über das Gehirn und halten sie aufrecht. Dieser Prozeß beinhaltet eine Erhöhung der parasympathischen Erregung und der übergreifenden Beweglichkeit, was den Organismus ausdehnt ... die orgonotische Ladung wird reorganisiert, um ein höheres Funktionsniveau zu ermöglichen. Dies beinhaltet eine Neuorganisation der Muskel- und Charakterpanzerung“ (S. 7). „Im Verlauf eines Nachtschlafes dominiert zunehmend das parasympathische Nervensystem. Während des REM [schneller Augenbewegungsschlaf, das mit dem Träumen am engsten verbundene Stadium] wird das autonome System extrem aktiv, mit Ausbrüchen sympathischer Aktivität, gefolgt von Phasen extremer Abnahme der sympathischen Aktivität und Zunahme der parasympathischen Aktivität“ (S. 48). „In Träumen ... sind grundlegende Funktionen der Kontraktion und Expansion integriert ... Bei den meisten gepanzerten Personen dient Schlaf dazu, die Panzerung zu verstärken und aufrechtzuerhalten ... In dem Maße, in der konflikthafte Motoraktivität in der Muskulatur ungebunden bleibt [d.h. wenn es einen Mangel an Muskelpanzerung gibt] und im sozialen Leben nicht zum Ausdruck kommt (zum Beispiel beim ... Schizophrenen), wird ansteigende Ladung nicht toleriert und der REM-Schlaf wird als traumatisch erlebt ...“ (S. 8). „Der Schlaf wird gestört, wenn ein Patient vermeidet, etwas [während der Wachphase] zu tun, das notwendig ist, um sein Leben in Bewegung zu halten, beispielsweise ein Problem zur Sprache zu bringen ...“ (S. 15). „Ein Großteil der Umstrukturierung, die nach einer medizinischen Orgontherapie auftritt, die die Sympathikonie [Überaktivierung des sympathischen Systems] auflöst, ereignet sich im Schlaf“ (S. 8). „Im Schlaf drückt der Mensch sein grundlegendstes Selbst aus“ (Harman 2009, S. 28).

In gewissem Sinne scheint mir, daß ein tiefer Kontakt mit sich selbst einen tiefen Kontakt und eine Integration zwischen dem eigenen ZNS und dem eigenen ANS erfordert. Darüber hinaus beinhaltet tiefer Kontakt mit anderen die Wahrnehmung des emotionalen, nonverbalen Bereichs im anderen. Auf der anderen Seite wollen wir das Baby nicht mit dem Bade ausschütten: Worte können tief emotional und voller Kontakt sein, wenn sie nicht defensiv als Mittel zur Distanzierung von Emotionen eingesetzt werden. Auch dazu hat Reich etwas zu sagen:

Die vulgäre Meinung nimmt an, daß die Funktion des menschlichen Verstandes … absolut dem Affekt [entgegengesetzt ist] … . Dabei wird zweierlei übersehen: daß erstens die intellektuelle Funktion selbst eine vegetative [autonome] Tätigkeit ist, daß es zweitens eine Gefühlsbetonung der Verstandestätigkeit gibt, die keiner bloß affektiven Regung an Intensität nachsteht ... [Hast du jemals eine leidenschaftliche Idee gehabt?] Der Intellekt kann also in den beiden grundsätzlichen Richtungen des psychischen Apparates, zur Welt und weg von der Welt, tätig sein; er kann ebenso mit lebhaftestem Affekt gleichgerichtet korrekt funktionieren wie auch sich dem Affekt kritisch gegenüberstellen. Zwischen Intellekt und Affekt besteht keine mechanische, absolut gegensätzliche, sondern wieder eine dialektische Funktionsbeziehung. (Reich, 1949, S. 412f)
Also, sprechen Emotionen lauter als Worte? Wenn wir auf das zurückblicken, was wir besprochen haben, würde ich doch sagen: Wir kommen zu dem Schluß, daß Emotionen in gewissem Sinne der weitere Bereich sind, der Kontext aus dem oder die Quelle aus der Wörter entspringen können. Wenn Wörter als Abwehr verwendet werden, um den Emotionen zu entkommen oder sie zu vermeiden, liegt die Wahrheit in der Emotion und der begleitenden Körpersprache und nicht in den Wörtern. Auf der anderen Seite, wenn, wie Reich sagt, die Worte in dieselbe Richtung wirken wie ein lebhafter Affekt, dann werden die Worte mit der Kraft der Emotion verbunden, und beide, Worte und Emotionen, sprechen laut.

Zu einem Orgonomen zu werden, hat mir persönlich geholfen, einen Fuß in der Natur und einen Fuß im Bereich meiner Mitmenschen zu haben und mir dergestalt geholfen, die Spaltung in meinen Gefühlen über diese beiden Welten zu heilen. Ich konnte tiefe und profunde verbale und nonverbale Erfahrungen mit meinen Patienten teilen und einigen der besten und aussagekräftigsten Theatervorführungen beiwohnen und in ihnen mitspielen, die ich je hätte finden können. In meiner Arbeit steckt das Potential, Shakespearesche Tiefen jeden Tag zu erleben. Shakespeare hat nur 36 Stücke geschrieben, aber es gibt unendlich viele tiefgreifende und bedeutungsvolle menschliche Geschichten, an denen ich als Orgonom teilhaben darf. Ich muß nicht zwischen Bühne und Wiese wählen. Ich habe sie beide in meiner Arbeit. Das ist das Geschenk der Orgonomie an mich und an meine Patienten.

Reich starb 1957 in einem Bundesgefängnis. Er war wegen Mißachtung des Gerichts verurteilt worden, weil er sich geweigert hatte, beim Versuch der FDA mitzuarbeiten, seine Arbeit als unwissenschaftlich abzutun. Ich möchte mit den Worten abschließen, die Reich aus dem Gefängnis an seinen 13jährigen Sohn Peter geschrieben hat: „Halte deinen Bauch weich. Laß nicht zu, daß er hart wird. Leide lieber, als hart zu werden“ (Reich 2012, S. 235, kursiv im Original).

 

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zuletzt geändert
28.05.19

 

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